Wenn der Wald den Atem anhält – Eine Waldgeschichte über Fight, Flight und Freeze

Alexandra Abredat

Der Morgen dämmerte über dem alten Laubwald wie ein langsamer Atemzug. Ein milder Wind strich durch die Wipfel der Eichen und Buchen, und die ersten Sonnenstrahlen tropften wie goldener Honig durch die Zweige. Ein Duft nach feuchter Erde, Moderholz und dem harzigen Knistern der Nadelbäume lag in der Luft – ein Duft, der jedem Waldbewohner sofort sagte: Heute wird ein guter Tag.


Zumindest hätte es ein guter Tag werden können, wäre da nicht Sciurus gewesen, das Eichhörnchen, das seit Sonnenaufgang schon fünfzehnmal um denselben Baumstamm gelaufen war.

Seine buschige Rute peitschte hin und her, seine dunklen Augen funkelten, und seine Pfoten nestelten an etwas, das nur mit viel Vorstellungskraft wie ein Vorratsversteck aussah. In Wahrheit war es ein Loch, das Sciurus schon dreimal wieder geleert hatte, weil er vergessen hatte, was er hineingelegt hatte – und ob er es überhaupt hineingelegt hatte.

Sciurus stieß ein kurzes, schnalzerartiges Geräusch aus – ein typischer Ruf, den Eichhörnchen ausstoßen, wenn sie aufgeregt oder wütend sind. Dabei stampfte er schnell mit den Pfoten auf den Boden, als wollte er die Welt warnen: „Ich bin hier, und ich bin wütend!“ – und sprang gegen den Baumstamm, rutschte zwei Fingerbreit wieder ab und startete den nächsten Sprint nach oben. Eine Eichel löste sich aus seinem Maul, fiel hinunter, rollte über das Moos und blieb genau vor Hans’ Pfoten liegen.

Hans, der Igel, stand da wie immer: rund, stachelig, warmherzig und mit einer Ruhe, die nur jemand hatte, der das Atmen zur Kunstform erhoben hatte. Seine Nase schnupperte sanft in der Luft. Er hob den Kopf, blinzelte langsam und sagte in seinem ruhigen Tonfall, der jeden Stress ausschalten konnte:
„Guten Morgen, Sciurus. Die Eichel scheint dringend mit mir sprechen zu wollen.“

Das Eichhörnchen sprang im Zickzack hinunter, wippte mit seinem Schwanz und rief:
„Hans! Ich hab’s verloren! Ich hab ALLES verloren! Und ich glaube, ich hab mich selbst auch irgendwie verloren!“

Hans beugte sich sehr langsam hinunter, so langsam, dass selbst der Wind geduldiger wurde, und stupste die Eichel zurück.
„Sie ist hier. Und du bist auch hier. Nichts ist verloren.“

„Doch!“, quietschte Sciurus. „Ich hab gerade ein Geräusch gehört! Ein riesiges! Es klang wie KRRRRSCH! So laut! Vielleicht ein Ast. Oder ein Wolf. Oder ein Ast, der aussieht wie ein Wolf! Oder eine Schlange mit Holzrinde! Oder—“

Hans hob eine Pfote. Langsam. Bedächtig.
Und sofort schwieg Sciurus, denn alle Tiere wussten: Wenn Hans langsam eine Pfote hob, begann gleich eine kleine Weisheit.

Doch bevor Hans sprechen konnte, durchzuckte ein scharfes, kurzes „Dib!“ die Luft.

Robin Rubecula – das Rotkehlchen – landete auf einem dünnen Ast über den beiden. Ihre rote Brust funkelte im Gegenlicht, ihr Kopf zuckte aufmerksam hin und her.
„Alarmruf!“, rief sie. „Kein Grund zur Panik, aber Vorsicht bitte. Irgendetwas hat sich im Unterholz bewegt. Eher groß. Eher plump. Nicht gefährlich – glaube ich. Aber… hmm.“

Sie hüpfte zwei Schritte nach vorn, plusterte sich und stieß ein schrilles „Ziih!“ aus – ein deutlicher Warnruf, aber einer von der harmlosen Sorte, wie Hans bemerkte.

„Groß und plump?“ Sciurus’ Stimme überschlug sich. „Das ist bestimmt etwas Gefährliches! Groß-plump-gefährlich ist eine ganz typische Kategorie für … äh … irgendwas Bedrohliches!“

Hans atmete tief ein. Gerade wollte er Sciurus beruhigen, da raschelte es wirklich im Unterholz. Sehr laut. Sehr plump. Sehr… ungeschickt. Der Wald hielt den Atem an.

Sciurus sprang senkrecht nach oben. Seine Rute stand wie ein Staubwedel unter Strom. Seine Augen wurden riesig. Für einen Herzschlag lang hing er regungslos in der Luft wie ein Eichhörnchen, das so tat, als wäre es ein Blatt.


Dann passierte alles gleichzeitig.

Freeze.
Sciurus erstarrte. Sein Körper war steif, seine Pupillen so weit, dass sie fast das ganze Auge einnahmen. Ein leises Zittern ging durch ihn, fast unmerklich – außer für Hans, der jedes Zittern der Welt wahrnahm, wie es schien. Evolutionär ist das Erstarren die älteste Schutzreaktion: Bewegungslosigkeit kann Raubtiere täuschen, die Bewegung besser wahrnehmen als Form. In seinem Körper aktivierte die Amygdala sofort den Alarm, der Hypothalamus löste die Kaskade aus, Nebennierenmark pumpt Adrenalin – ein orchestrierter Schutzmechanismus, geboren aus Millionen Jahren Anpassung.


Flight.
Im nächsten Moment schoss Sciurus los. Ein roter Pfeil. Ein flauschiger Blitz. Er rannte, sprang, kletterte, rutschte, stürzte, rannte weiter. Das Herz raste, die Muskeln brannten, das Blut rauschte in seine Extremitäten. Flucht – eine Reflexhandlung, die Energie mobilisiert, um Leben zu retten. Noradrenalin schärfte seine Sinne, Dopamin ließ ihn fokussiert reagieren, instinktiv, schnell, unbewusst.


Fight.
Doch mitten in der Flucht kehrte Sciurus plötzlich um. Er riss eine alte, heruntergefallene Buchecker vom Boden, warf sie energisch in die Richtung des Raschelns und quietschte:
„Los! Zeig dich! Ich bin bewaffnet!“


Fight – Kampf – aktiviert dieselbe Energie wie Flight, aber kanalisiert sie gegen ein Hindernis. Mut, Kraft, Fokus – nicht zur Verletzung, sondern zur Selbstverteidigung.

Hans seufzte. Robin gluckste.

Und genau in diesem Moment schob sich ein roter, buschiger Schwanz aus dem Unterholz, gefolgt von einer weißen Brust und wachen, freundlichen Augen.

„Ihr wirkt etwas… beschäftigt?“, fragte Herr Fuchs höflich, trat heraus und schüttelte ein paar Blätter aus seinem Fell. „Ich hoffe, ich habe niemanden erschreckt.“

Sciurus sank auf ein Moospolster und japste.
„Herr… Herr Fuchs… Ich dachte schon“

„Das war nur ich“, sagte Herr Fuchs. „Ich habe mich etwas ungeschickt angestellt. Diese Brombeer-Ranken sind heute anscheinend meine persönlichen Feinde.“

Robin flog ein paar Kreise über dem Fuchs, überprüfte sein Fell und stellte fest: keine Tropfen Blut, keine auffällige Anspannung.
„Entwarnung! Alles in Ordnung. Herr Fuchs hat sich nur mit einem Strauch geprügelt.“

„Er hat angefangen“, murmelte Herr Fuchs.

Hans trat näher, blieb jedoch in angenehmem Abstand – er war schließlich ein Igel, kein Kuscheltier – und sprach in seinem beruhigenden Tonfall:
„Sciurus hat gerade drei Stressreaktionen in weniger als drei Herzschlägen durchlaufen.“

„Drei?“, japste Sciurus. „Ich dachte, es waren hundert!“

„Drei“, sagte Hans. „Freeze. Flight. Fight. Sie sind uralte Instinkte. Viel älter als wir. Evolutionär entwickelt, damit kleine Tiere überleben, wenn Raubtiere lauern. Dein Körper reagiert schneller als dein Verstand.“

Herr Fuchs nickte.
„Einfach ausgedrückt: Die Instinkte haben das Kommando übernommen. Dein Nervensystem wusste schon: Gefahr! – bevor du darüber nachdenken konntest.“

Robin zwitscherte:
„Und das Zittern, das Pochen im Bauch, die wachsende Wachsamkeit? Das ist deine innere Wahrnehmung. Gefühle sind Signale deines Körpers – Informationen über die Umgebung und deinen inneren Zustand. Wer sie versteht, kann bewusst handeln.“

Sciurus nickte langsam, zum ersten Mal seit dem Schreck nicht völlig aufgeregt.


Hans begann die kleine Coaching-Stunde des Waldes:

  • Freeze: Erstarren schützt, gibt Zeit, zu beobachten. Amygdala, Hypothalamus, Adrenalin-Kaskade.
  • Flight: Flucht aktiviert Herz, Muskeln, Atmung; Noradrenalin, Dopamin, schnelle Wahrnehmung.
  • Fight: Kampf kanalisiert Energie, Mut und Fokus. Nicht Angriff aus Hass, sondern Selbstschutz.


Robin und Herr Fuchs ergänzten: Wahrnehmung, Atmen, Pausen, soziale Rückversicherung.

Sciurus lernte: Mut heißt nicht, keine Angst zu haben. Mut heißt, trotz Angst bewusst zu handeln. Sein schnelles Herz war kein Defekt, sondern ein Geschenk der Evolution, ein System, das Leben rettet.

Der Nachmittag glitt in warmes Gold über. Pollen tanzten wie Magie. Ameisen liefen über Moossteine, ein Schwarzspecht rauschte über die Baumkronen. Sciurus lag ausgestreckt auf dem Moos, langsam beruhigt.

„Ich dachte immer, mein schnelles Herz bedeutet, dass ich kaputt bin. Aber vielleicht bedeutet es einfach nur, dass ich lebendig bin.“
„Und wachsam“, fügte Robin hinzu.
„Und kreativ“, sagte Herr Fuchs.
„Und du selbst“, sagte Hans.

Der Wald atmete mit ihnen. Niemand war allein.

Ein sanfter Wind fuhr durch die Bäume, löste Staubpartikel, die wie schwebende Lichtfunken glitzerten – vielleicht Magie, vielleicht Staub. Sciurus fing einen Lichtfunken ein.
„Ich glaube“, sagte er leise, „ich kann jetzt wieder ruhig atmen.“

Hans lächelte.
„Dann hat der Wald heute gut gearbeitet.“
„Und du auch“, sagte Sciurus.
„Und du“, sagte Hans.
Robin zwitscherte ein warmes „Dib“.
Herr Fuchs verneigte sich leicht.


Dann senkte sich der Abend über die Tiere, sanft und schützend wie die Decke des Waldes. Irgendwo tief im Herzen des Waldes, dort wo die Magie wohnt, die nur jene sehen, die ruhig genug geworden sind, flackerte ein kleines Licht. Warm. Still. Ein Atemzug des Waldes.


Quellen:

Fight, Flight, Freeze - Resilienz-Akademie

Kampf-oder-Flucht-Reaktion – Wikipedia

Fight, Flight, or Freeze - Mindscape

Eichhörnchen - Tier-Steckbrief - für Kinder & Schule

Raus aus’m Beton – 2026 rein in die Natur und frische Wege entdecken
von Alexandra Abredat 31. Dezember 2025
Von Kräutern bis Coaching, Gruseltouren bis Buchprojekt – 2026 ist ein Jahr draußen, in der Natur und voller Entdeckungen.
Macken, Mini-Siege und Grenzen: Selbstliebe lebt davon, sich selbst wohlgesonnen zu begegnen.
von Alexandra Abredat 24. Dezember 2025
Auf der eigenen Seite stehen, kleine Erfolge feiern, Fehler umarmen – Selbstliebe ist praktische Magie für ein freches, echtes Leben.
Grüne Fußspuren: Der Wegerich und die Eroberung Nordamerikas
von Alexandra Abredat 20. Dezember 2025
Robust und clever: Der Breitwegerich wanderte mit europäischen Siedlern nach Nordamerika und markierte überall ihre Fußstapfen.
Von Küsten zu Gipfeln: Die stille Migration der Pflanzen
von Alexandra Abredat 20. Dezember 2025
Pflanzen reagieren auf den Klimawandel: Küstenarten wandern, Gebirgsarten steigen auf, Neophyten breiten sich aus – stille Migration der Natur im Wandel.
Grünes Fundament der Bibel: Pflanzen, Landschaft und Leben im alten Land
von Alexandra Abredat 19. Dezember 2025
Biblische Pflanzen prägen Landschaft, Alltag und Glauben. Sie zeigen Anpassung, Geduld und Hoffnung und verbinden Natur mit spiritueller Bedeutung.
Aus der Enge in die Weite – Angst verstehen und regulieren
18. Dezember 2025
Angst verstehen, statt sie zu bekämpfen: Mit Naturcoaching lernen, neuronale Muster zu verändern, Selbstvertrauen zu stärken und gelassen zu handeln.
Engel – zwischen Himmel, Mythen und Alltag
von Alexandra Abredat 17. Dezember 2025
Engel: göttliche Boten zwischen Himmel, Mythos und Alltag, die schützen, lehren und Menschen psychologisch berühren – geheimnisvoll, charmant und faszinierend.
Kontrolliert vertrauen – oder wie man sein ‘Vertrauenskonto’ füttert
von Alexandra Abredat 16. Dezember 2025
Vertrauen entsteht nicht von selbst: Wer sein „Vertrauenskonto“ füttert, ehrlich handelt, Konflikte klar anspricht und Kontrolle klug einsetzt, schafft belastbares Vertrauen.
Im Waldmeister-Buchenwald streiten Tiere im Frühling, bis Amete, die Ameise, zeigt, dass Teamarbeit
von Alexandra Abredat 15. Dezember 2025
Im Waldmeister-Buchenwald streiten Tiere im Frühling, bis Amete, die Ameise, zeigt, dass Teamarbeit selbst die größten Hindernisse überwindet.
von Alexandra Abredat 15. Dezember 2025
Wer heute nach Teamregeln, Führungstools oder Kooperationsmodellen sucht, landet schnell bei Flipcharts, Moderationskarten und englischen Buzzwords. Die Natur war da deutlich früher – und erheblich effizienter. Lange bevor Menschen begannen, über Zusammenarbeit nachzudenken, hatten Tiere sie bereits perfektioniert. Nicht aus Nettigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Teamverhalten ist in der Natur kein Wohlfühlkonzept, sondern eine Überlebensstrategie. Und genau deshalb lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Als Naturcoach und psychologische Beraterin fasziniert mich dabei weniger die romantische Vorstellung vom harmonischen Tierteam, sondern die ehrliche Realität: Tiere kooperieren, wenn es sinnvoll ist. In meiner Arbeit nutze ich genau solche Beobachtungen aus der Natur, um Teams einen Perspektivwechsel zu ermöglichen – jenseits von Methoden und Modellen. Beginnen wir mit einer der eindrucksvollsten Teamleistungen der Vogelwelt: dem Starengemurmel. Tausende Stare bewegen sich dabei wie eine einzige, atmende Masse durch den Himmel. Kein Anführer, kein Regisseur, kein zentrales Kommando – und doch absolute Synchronität. Der Grund ist denkbar pragmatisch: Raubvögel wie Falken können sich kaum auf ein einzelnes Ziel konzentrieren. Der Schwarm schützt jedes einzelne Tier durch pure Kooperation. Kein Vogel ist wichtiger als der andere, und genau das macht alle sicherer. Ein Prinzip, das auch in menschlichen Teams erstaunlich gut funktioniert – zumindest solange niemand versucht, sich dauerhaft in den Mittelpunkt zu drängen. Ähnlich klar organisiert ist die Zusammenarbeit bei Wölfen – allerdings weniger hierarchisch, als lange angenommen wurde. Moderne Verhaltensforschung zeigt: Ein Wolfsrudel ist meist eine Familiengemeinschaft, bestehend aus einem Elternpaar und dessen Nachwuchs. Entscheidungen entstehen oft situativ und kooperativ. Das berühmte Heulen ist kein Ausdruck von Romantik, sondern ein hochfunktionales Kommunikationsmittel. Wölfe heulen, um sich zu sammeln, um Kontakt zu halten, um Zugehörigkeit zu klären. Gejagt wird gemeinsam, aber nicht nach starren Befehlen, sondern mit flexiblen Rollen, die sich je nach Situation und Erfahrung der Tiere verändern. Führung ist hier kein Dauerstatus, sondern eine Aufgabe auf Zeit – übernommen von dem Tier, das gerade die besten Voraussetzungen mitbringt. Das spart Energie. Und erstaunlich viele Konflikte. Auch Ameisen sind Meisterinnen der effizienten Zusammenarbeit – und das ganz ohne Chefetage. Besonders faszinierend ist ihr sogenannter Tandemlauf. Dabei führt eine erfahrene Ameise eine andere gezielt zu einer Nahrungsquelle. Die Geführte bleibt durch ständigen Kontakt in der richtigen Richtung, lernt den Weg und kann ihn später selbstständig nutzen. Wissen wird nicht abstrakt vermittelt, sondern im Tun weitergegeben. Viele moderne Führungskräfte würden dafür ein Tagesseminar buchen. Manche Tierarten treiben Teamarbeit sogar in eine ästhetische Dimension. Flamingos etwa versammeln sich zu Tausenden und führen synchronisierte Gruppentänze auf. Beine heben, drehen, schreiten – alles gleichzeitig. Das sieht spektakulär aus, erfüllt aber einen klaren Zweck: Es stärkt den Zusammenhalt und spielt eine zentrale Rolle bei der Partnerwahl. Wer aus dem Takt gerät, fällt auf. Auch Delfine sind bekannt für ihre synchronen Bewegungen. Sie schwimmen abgestimmt, führen gemeinsame Pirouetten aus, helfen verletzten Artgenossen und lösen Probleme kooperativ. Empathie ist hier kein sentimentaler Zusatz, sondern Teil der Überlebensstrategie. Besonders spannend wird Zusammenarbeit dort, wo sie Artgrenzen überschreitet. In der Natur nennt man das Symbiose – Zusammenleben zum gegenseitigen Vorteil. Ein klassisches Beispiel ist die Beziehung zwischen Clownfisch und Seeanemone. Die Anemone ist mit giftigen Nesselkapseln bewaffnet, die selbst große Räuber vertreiben. Der Clownfisch jedoch lebt geschützt zwischen ihren Tentakeln, da seine Haut chemisch so getarnt ist, dass die Anemone ihn nicht als Fremdkörper erkennt. Im Gegenzug vertreibt der Clownfisch Fressfeinde der Anemone. Schutz gegen Verteidigung. Klarer Deal, klare Rollen. Auch Wölfe arbeiten artübergreifend – etwa mit Kolkraben. Die Vögel entdecken aus der Luft Kadaver oder verletzte Tiere, die Wölfe öffnen mit ihren Zähnen die dicke Haut. Erst dann können beide fressen. Ohne Absprache, aber mit gegenseitigem Nutzen. Vertrauen entsteht hier nicht aus Sympathie, sondern aus Erfahrung. Im Korallenriff übernehmen Putzerfische die Rolle mobiler Zahnärzte. Große Fische öffnen bereitwillig ihr Maul und lassen Parasiten und Essensreste entfernen. Eine riskante, aber lohnende Kooperation. Allerdings gibt es Betrüger: Fische, die sich als Putzer tarnen, zubeißen und fliehen. Die Folge ist Misstrauen. Manche Räuber fressen lieber den Putzerfisch, als sich auf die Reinigung einzulassen. Auch das ist Natur: Kooperation braucht Verlässlichkeit – sonst endet sie abrupt. Nicht jede Symbiose ist so ausgewogen, wie sie lange schien. Beim Madenhacker etwa, der auf Antilopen, Büffeln oder Nashörnern sitzt, zeigte sich erst spät: Er frisst nicht nur Parasiten, sondern oft auch Fleisch aus offenen Wunden. Die Beziehung nützt häufig mehr dem Vogel als dem Säugetier. Zusammenarbeit ist also nicht automatisch fair. Ein wichtiger Hinweis für alle, die Teamarbeit idealisieren. Dass Kooperation sogar hochgradige kognitive Leistungen erfordert, zeigen aktuelle Forschungen zur gemeinsamen Jagd von Oktopussen und Rifffischen. Der Biologe Eduardo Sampaio und sein Team konnten nachweisen, dass diese Tiere ihr Verhalten flexibel aufeinander abstimmen. Die Fische zeigen dem Oktopus versteckte Beute, der Oktopus scheucht sie heraus oder umschlingt sie mit seinen Armen. Wer die Zusammenarbeit ausnutzt, riskiert Sanktionen. Kooperation erfordert Wahrnehmung, Lernen – und soziale Kontrolle. Besonders aufschlussreich ist auch der Vergleich zwischen Wolf und Hund. Obwohl Hunde als besonders kooperativ gelten, schneiden sie in Tests zur Zusammenarbeit mit Artgenossen schlechter ab als Wölfe. In Experimenten, bei denen zwei Tiere gleichzeitig an einem Seil ziehen mussten, um an Futter zu kommen, warteten Wölfe geduldig aufeinander und koordinierten ihr Handeln. Hunde agierten häufiger individuell. Die Erklärung ist simpel und unbequem: Hunde sind auf Kooperation mit Menschen selektiert – nicht mit ihresgleichen. Teamfähigkeit ist also keine Selbstverständlichkeit, sondern kontextabhängig. Ein Extrembeispiel für kompromisslose Zusammenarbeit liefern Nacktmulle. Blind, haarlos und fast schmerzunempfindlich leben sie in Kolonien von bis zu 300 Tieren unter der Erde. Es gibt eine Königin, Arbeiter und Soldaten, klare Aufgaben und sogar eigene Dialekte. Effizienz und Spezialisierung sind hier perfekt – individuelle Freiheit spielt keine Rolle. Bewundernswert, ja. Erstrebenswert für menschliche Teams? Eher nicht. Denn natürlich hat Zusammenleben auch Nachteile. Konkurrenz um Nahrung, Rangkämpfe, Krankheiten und Parasiten gehören ebenso dazu. Tiergruppen müssen ständig abwägen, ob Kooperation sich lohnt. Gruppengröße, Verwandtschaft, Lebensraum und Jahreszeit entscheiden darüber, ob Teamarbeit Vorteile bringt oder zur Belastung wird. Und genau hier liegt die wichtigste Lehre für uns Menschen: Gute Teams entstehen nicht aus Harmonieversprechen, sondern aus Klarheit. Klare Kommunikation, verlässliche Rollen, gegenseitiger Nutzen und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Tiere zeigen uns nicht, wie man nett zusammenarbeitet – sondern wie man wirksam zusammenlebt. Vielleicht ist das der größte Mehrwert der Natur für Coachingprozesse: Sie erlaubt uns, Teamverhalten jenseits von Moral und Ideologie zu betrachten. Ehrlich, funktional und oft erstaunlich humorvoll. Denn manchmal reicht ein Blick ins Starengemurmel, um zu erkennen: Wenn alle versuchen, der Falke zu sein, wird das Team sehr schnell sehr klein. Quellen: Teamwork - 3sat-Mediathek Symbiose: Warum sich Tierarten zusammentun - [GEOLINO] Tiere als Teamplayer: Was wir von ihnen für die Zusammenarbeit im Job lernen können - Heidrun Jürgens Personaldienstleistungen Tierische Allianzen | campus.kn Wölfe sind die besseren Teamplayer - wissenschaft.de Wie leben Tiere zusammen - VRM Wochenblätter Natho, F. (2005). Die Lösung liegt im Team. Handbuch zur Arbeit mit der Skalierungsscheibe. Dessau: Gamus. Frank Natho systhema 3/2007 · 21. Jahrgang · Seite 357-370
Mehr anzeigen