Engel – zwischen Himmel, Mythen und Alltag

Alexandra Abredat

Engel – diese mysteriösen, oft geflügelten Wesen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde unterwegs sind – haben die Menschheit seit Jahrtausenden fasziniert. Ob im Judentum, Christentum oder Islam: Engel gelten als Boten Gottes, die weder eigene Allmacht noch eigene Pläne haben, sondern schlicht und ergreifend den göttlichen Willen übermitteln. Man könnte sagen, sie sind die zuverlässigsten Kurierdienste des Himmels – immer pünktlich, unbestechlich und mit klarer Mission. Wie der Tanach es ausdrückt: „Und der Engel des Herrn erschien ihm“ (1. Mose 46,2). Engel treten auf, helfen, warnen oder überbringen Botschaften – immer im Auftrag einer höheren Ordnung.


Die Quellen für dieses Wissen sind so bunt wie die Engel selbst. Im Judentum sind es der Tanach und rabbinische Schriften, im Christentum das Alte und Neue Testament, im Islam der Koran. Ergänzt werden diese durch Heiligenlegenden, volkstümliche Erzählungen und esoterische Schriften. Besonders schön beschreibt Lukas im Neuen Testament die Verkündigung an Maria: „Fürchte dich nicht, Maria; du hast Gnade bei Gott gefunden“ (Lukas 1,30). Engel erscheinen hier als sanfte Mittler zwischen Mensch und Gott, nicht als übermächtige Kräfte.


Engel sollten nicht mit Dämonen verwechselt werden. Während Engel freundlich, helfend und meist unsichtbar agieren, sind Dämonen eher Störenfriede. Luzifer zum Beispiel, einst ein Engel, rebellierte gegen Gott und wurde zum bekanntesten „gefallenen Engel“. Im Islam ist der Unterschied ähnlich: Engel sündigen nicht, Menschen werden keine Engel, und Iblis ist kein Engel, sondern ein Dschinn – ein Wesen mit eigenem Willen, das parallel zu Menschen und Engeln existiert (Koran 18:50).


Schon der Name „Engel“ verrät ihre Aufgabe: Aus dem Griechischen ἄγγελος (angelos) bedeutet es schlicht „Bote“. Ursprünglich konnten Engel in antiken Kulturen auch profane Boten sein; erst die Übersetzungen der hebräischen Bibel ins Griechische und Lateinische machten sie zu göttlichen Vermittlern.


Engel-ähnliche Wesen finden sich übrigens auch außerhalb der abrahamitischen Traditionen. In Ugarit schickte der Gott Ba’al Boten, begleitet von Licht- und Feuererscheinungen, um Nachrichten zu übermitteln – man könnte sagen, frühe Himmelsboten mit eindrucksvollen Effekten. In Mesopotamien existierten die ilū/ištaru als persönliche Schutzgeister, die Menschen begleiteten. Im Zoroastrismus entwickelten sich Engel-Hierarchien wie die Amesha Spenta oder persönliche Schutzgeister, die Fravashi. Viele dieser Ideen wurden später ins Judentum übernommen, besonders nach persischer Herrschaft.


Im Judentum erscheinen Engel oft streng hierarchisch, mächtig und ohne eigenen Willen. Sie helfen, bestrafen oder begleiten Menschen auf göttlichen Auftrag. Thomas von Aquin sah Engel im Christentum als reine Intellekte, die Gottes Willen weitergeben – sozusagen die universitären Studenten der himmlischen Welt. Die katholische Kirche beschreibt Engel als personal, unsterblich und präsent im Glauben. Erzengel wie Michael, Gabriel oder Raphael werden genannt, Uriel taucht traditionell oft auf, ist aber nicht offiziell kanonisch.


Die bildliche Darstellung von Engeln ist ein eigener Zauber. Schon in der Antike wurden Gottheiten mit Flügeln gezeigt, wie Isis oder Nike. Frühchristliche Kunst zeigte Engel zunächst als junge Männer, später mit Flügeln und Heiligenschein. Renaissance und Barock gaben ihnen prächtige Erscheinungen mit Putten, Palmenzweigen oder Siegeskränzen. In der islamischen Kunst ab dem 12. Jahrhundert erscheinen Engel ebenfalls, oft mit kulturell spezifischen Attributen wie Turbanen – stets als Vermittler göttlicher Botschaften.


Aus psychologischer Sicht erfüllen Engel eine besondere Funktion: Sie sind Schutzsymbol, Orientierungspunkt und Hoffnungsträger zugleich. Wer an Engel glaubt, erlebt nachweislich mehr Sicherheit, Zuversicht und emotionale Stabilität. Sie sind greifbare Projektionsflächen für spirituelle Sehnsucht, Trost und moralische Orientierung. Wie Ibn Arabi und Al-Ghazālī schreiben, helfen Engel den Menschen, göttliche Botschaften zu verstehen, ohne von der Komplexität des Göttlichen überwältigt zu werden.


Für uns Menschen lässt sich daraus ein wunderbarer Transfer ziehen: Der Glaube an Engel kann die Selbstreflexion fördern, Mut geben und Vertrauen in die eigenen Entscheidungen stärken. Engel sind wie stille Partner im Alltag, die Menschen dazu inspirieren, tugendhaft, achtsam und resilient zu sein. Sie erinnern daran, dass es manchmal hilfreich ist, die Führung abzugeben, auf Zeichen zu achten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – ganz ohne Kontrollzwang, nur mit Offenheit und Intuition.


Kurzum: Engel sind überall – in Schriften, Mythen, Kunstwerken und Traditionen. Sie erscheinen mal als strahlende Lichtwesen, mal als jugendliche Boten, mal als gefallene Schlingel. Kompliziert, hierarchisch, bunt, geheimnisvoll – und immer charmant. Wer sich auf sie einlässt, kann nicht nur faszinierende Geschichten entdecken, sondern auch eigene innere Ressourcen wecken. Und das ist doch ein Blogbeitrag wert.


Quellen:

Engel – Wikipedia

Engel - Basiswissen Glauben – EKD

Engel | Religionen Entdecken

Welche Engel gibt es in der Bibel? | Sonntags

Neun Chöre der Engel – Wikipedia

Engel und ihre Bedeutung - Orpanit


Aus der Enge in die Weite – Angst verstehen und regulieren
18. Dezember 2025
Angst verstehen, statt sie zu bekämpfen: Mit Naturcoaching lernen, neuronale Muster zu verändern, Selbstvertrauen zu stärken und gelassen zu handeln.
Kontrolliert vertrauen – oder wie man sein ‘Vertrauenskonto’ füttert
von Alexandra Abredat 16. Dezember 2025
Vertrauen entsteht nicht von selbst: Wer sein „Vertrauenskonto“ füttert, ehrlich handelt, Konflikte klar anspricht und Kontrolle klug einsetzt, schafft belastbares Vertrauen.
Im Waldmeister-Buchenwald streiten Tiere im Frühling, bis Amete, die Ameise, zeigt, dass Teamarbeit
von Alexandra Abredat 15. Dezember 2025
Im Waldmeister-Buchenwald streiten Tiere im Frühling, bis Amete, die Ameise, zeigt, dass Teamarbeit selbst die größten Hindernisse überwindet.
von Alexandra Abredat 15. Dezember 2025
Wer heute nach Teamregeln, Führungstools oder Kooperationsmodellen sucht, landet schnell bei Flipcharts, Moderationskarten und englischen Buzzwords. Die Natur war da deutlich früher – und erheblich effizienter. Lange bevor Menschen begannen, über Zusammenarbeit nachzudenken, hatten Tiere sie bereits perfektioniert. Nicht aus Nettigkeit, sondern aus Notwendigkeit. Teamverhalten ist in der Natur kein Wohlfühlkonzept, sondern eine Überlebensstrategie. Und genau deshalb lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Als Naturcoach und psychologische Beraterin fasziniert mich dabei weniger die romantische Vorstellung vom harmonischen Tierteam, sondern die ehrliche Realität: Tiere kooperieren, wenn es sinnvoll ist. In meiner Arbeit nutze ich genau solche Beobachtungen aus der Natur, um Teams einen Perspektivwechsel zu ermöglichen – jenseits von Methoden und Modellen. Beginnen wir mit einer der eindrucksvollsten Teamleistungen der Vogelwelt: dem Starengemurmel. Tausende Stare bewegen sich dabei wie eine einzige, atmende Masse durch den Himmel. Kein Anführer, kein Regisseur, kein zentrales Kommando – und doch absolute Synchronität. Der Grund ist denkbar pragmatisch: Raubvögel wie Falken können sich kaum auf ein einzelnes Ziel konzentrieren. Der Schwarm schützt jedes einzelne Tier durch pure Kooperation. Kein Vogel ist wichtiger als der andere, und genau das macht alle sicherer. Ein Prinzip, das auch in menschlichen Teams erstaunlich gut funktioniert – zumindest solange niemand versucht, sich dauerhaft in den Mittelpunkt zu drängen. Ähnlich klar organisiert ist die Zusammenarbeit bei Wölfen – allerdings weniger hierarchisch, als lange angenommen wurde. Moderne Verhaltensforschung zeigt: Ein Wolfsrudel ist meist eine Familiengemeinschaft, bestehend aus einem Elternpaar und dessen Nachwuchs. Entscheidungen entstehen oft situativ und kooperativ. Das berühmte Heulen ist kein Ausdruck von Romantik, sondern ein hochfunktionales Kommunikationsmittel. Wölfe heulen, um sich zu sammeln, um Kontakt zu halten, um Zugehörigkeit zu klären. Gejagt wird gemeinsam, aber nicht nach starren Befehlen, sondern mit flexiblen Rollen, die sich je nach Situation und Erfahrung der Tiere verändern. Führung ist hier kein Dauerstatus, sondern eine Aufgabe auf Zeit – übernommen von dem Tier, das gerade die besten Voraussetzungen mitbringt. Das spart Energie. Und erstaunlich viele Konflikte. Auch Ameisen sind Meisterinnen der effizienten Zusammenarbeit – und das ganz ohne Chefetage. Besonders faszinierend ist ihr sogenannter Tandemlauf. Dabei führt eine erfahrene Ameise eine andere gezielt zu einer Nahrungsquelle. Die Geführte bleibt durch ständigen Kontakt in der richtigen Richtung, lernt den Weg und kann ihn später selbstständig nutzen. Wissen wird nicht abstrakt vermittelt, sondern im Tun weitergegeben. Viele moderne Führungskräfte würden dafür ein Tagesseminar buchen. Manche Tierarten treiben Teamarbeit sogar in eine ästhetische Dimension. Flamingos etwa versammeln sich zu Tausenden und führen synchronisierte Gruppentänze auf. Beine heben, drehen, schreiten – alles gleichzeitig. Das sieht spektakulär aus, erfüllt aber einen klaren Zweck: Es stärkt den Zusammenhalt und spielt eine zentrale Rolle bei der Partnerwahl. Wer aus dem Takt gerät, fällt auf. Auch Delfine sind bekannt für ihre synchronen Bewegungen. Sie schwimmen abgestimmt, führen gemeinsame Pirouetten aus, helfen verletzten Artgenossen und lösen Probleme kooperativ. Empathie ist hier kein sentimentaler Zusatz, sondern Teil der Überlebensstrategie. Besonders spannend wird Zusammenarbeit dort, wo sie Artgrenzen überschreitet. In der Natur nennt man das Symbiose – Zusammenleben zum gegenseitigen Vorteil. Ein klassisches Beispiel ist die Beziehung zwischen Clownfisch und Seeanemone. Die Anemone ist mit giftigen Nesselkapseln bewaffnet, die selbst große Räuber vertreiben. Der Clownfisch jedoch lebt geschützt zwischen ihren Tentakeln, da seine Haut chemisch so getarnt ist, dass die Anemone ihn nicht als Fremdkörper erkennt. Im Gegenzug vertreibt der Clownfisch Fressfeinde der Anemone. Schutz gegen Verteidigung. Klarer Deal, klare Rollen. Auch Wölfe arbeiten artübergreifend – etwa mit Kolkraben. Die Vögel entdecken aus der Luft Kadaver oder verletzte Tiere, die Wölfe öffnen mit ihren Zähnen die dicke Haut. Erst dann können beide fressen. Ohne Absprache, aber mit gegenseitigem Nutzen. Vertrauen entsteht hier nicht aus Sympathie, sondern aus Erfahrung. Im Korallenriff übernehmen Putzerfische die Rolle mobiler Zahnärzte. Große Fische öffnen bereitwillig ihr Maul und lassen Parasiten und Essensreste entfernen. Eine riskante, aber lohnende Kooperation. Allerdings gibt es Betrüger: Fische, die sich als Putzer tarnen, zubeißen und fliehen. Die Folge ist Misstrauen. Manche Räuber fressen lieber den Putzerfisch, als sich auf die Reinigung einzulassen. Auch das ist Natur: Kooperation braucht Verlässlichkeit – sonst endet sie abrupt. Nicht jede Symbiose ist so ausgewogen, wie sie lange schien. Beim Madenhacker etwa, der auf Antilopen, Büffeln oder Nashörnern sitzt, zeigte sich erst spät: Er frisst nicht nur Parasiten, sondern oft auch Fleisch aus offenen Wunden. Die Beziehung nützt häufig mehr dem Vogel als dem Säugetier. Zusammenarbeit ist also nicht automatisch fair. Ein wichtiger Hinweis für alle, die Teamarbeit idealisieren. Dass Kooperation sogar hochgradige kognitive Leistungen erfordert, zeigen aktuelle Forschungen zur gemeinsamen Jagd von Oktopussen und Rifffischen. Der Biologe Eduardo Sampaio und sein Team konnten nachweisen, dass diese Tiere ihr Verhalten flexibel aufeinander abstimmen. Die Fische zeigen dem Oktopus versteckte Beute, der Oktopus scheucht sie heraus oder umschlingt sie mit seinen Armen. Wer die Zusammenarbeit ausnutzt, riskiert Sanktionen. Kooperation erfordert Wahrnehmung, Lernen – und soziale Kontrolle. Besonders aufschlussreich ist auch der Vergleich zwischen Wolf und Hund. Obwohl Hunde als besonders kooperativ gelten, schneiden sie in Tests zur Zusammenarbeit mit Artgenossen schlechter ab als Wölfe. In Experimenten, bei denen zwei Tiere gleichzeitig an einem Seil ziehen mussten, um an Futter zu kommen, warteten Wölfe geduldig aufeinander und koordinierten ihr Handeln. Hunde agierten häufiger individuell. Die Erklärung ist simpel und unbequem: Hunde sind auf Kooperation mit Menschen selektiert – nicht mit ihresgleichen. Teamfähigkeit ist also keine Selbstverständlichkeit, sondern kontextabhängig. Ein Extrembeispiel für kompromisslose Zusammenarbeit liefern Nacktmulle. Blind, haarlos und fast schmerzunempfindlich leben sie in Kolonien von bis zu 300 Tieren unter der Erde. Es gibt eine Königin, Arbeiter und Soldaten, klare Aufgaben und sogar eigene Dialekte. Effizienz und Spezialisierung sind hier perfekt – individuelle Freiheit spielt keine Rolle. Bewundernswert, ja. Erstrebenswert für menschliche Teams? Eher nicht. Denn natürlich hat Zusammenleben auch Nachteile. Konkurrenz um Nahrung, Rangkämpfe, Krankheiten und Parasiten gehören ebenso dazu. Tiergruppen müssen ständig abwägen, ob Kooperation sich lohnt. Gruppengröße, Verwandtschaft, Lebensraum und Jahreszeit entscheiden darüber, ob Teamarbeit Vorteile bringt oder zur Belastung wird. Und genau hier liegt die wichtigste Lehre für uns Menschen: Gute Teams entstehen nicht aus Harmonieversprechen, sondern aus Klarheit. Klare Kommunikation, verlässliche Rollen, gegenseitiger Nutzen und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Tiere zeigen uns nicht, wie man nett zusammenarbeitet – sondern wie man wirksam zusammenlebt. Vielleicht ist das der größte Mehrwert der Natur für Coachingprozesse: Sie erlaubt uns, Teamverhalten jenseits von Moral und Ideologie zu betrachten. Ehrlich, funktional und oft erstaunlich humorvoll. Denn manchmal reicht ein Blick ins Starengemurmel, um zu erkennen: Wenn alle versuchen, der Falke zu sein, wird das Team sehr schnell sehr klein. Quellen: Teamwork - 3sat-Mediathek Symbiose: Warum sich Tierarten zusammentun - [GEOLINO] Tiere als Teamplayer: Was wir von ihnen für die Zusammenarbeit im Job lernen können - Heidrun Jürgens Personaldienstleistungen Tierische Allianzen | campus.kn Wölfe sind die besseren Teamplayer - wissenschaft.de Wie leben Tiere zusammen - VRM Wochenblätter Natho, F. (2005). Die Lösung liegt im Team. Handbuch zur Arbeit mit der Skalierungsscheibe. Dessau: Gamus. Frank Natho systhema 3/2007 · 21. Jahrgang · Seite 357-370
von Alexandra Abredat 14. Dezember 2025
Wenn der Herbst die Gärten leiser macht und die letzten Blüten verblassen, beginnt für Schmetterlinge eine Zeit der Entscheidung. An milden Oktobertagen sitzt vielleicht noch ein Zitronenfalter reglos im Laub, als hätte ihn jemand vergessen. Kein Flattern, kein Suchen nach Nektar – nur Stille. Während wir Fenster schließen und Jacken hervorholen, prüfen Schmetterlinge ihre Optionen: bleiben oder gehen, erstarren oder reisen, sich verbergen oder verwandeln. Die meisten verschwinden aus unserem Blickfeld – und genau hier beginnt das große Missverständnis. Denn Schmetterlinge sind im Winter keineswegs verschwunden. Sie sind nur anders da: als Ei, als Raupe, als Puppe, als scheinbar lebloser Falter im Verborgenen oder auf dem Weg in den Süden. Bleiben oder gehen – die erste Entscheidung Nicht alle Schmetterlinge stellen sich dem Winter in Deutschland. Einige wählen den radikalsten Weg: die Flucht. Zu diesen sogenannten Wanderfaltern gehören Admiral, Distelfalter, Taubenschwänzchen oder Windenschwärmer. Sie verlassen Mitteleuropa im Herbst und ziehen Richtung Südeuropa oder sogar bis nach Afrika. Dabei legen sie Strecken von mehreren hundert bis zu über zweitausend Kilometern zurück. Orientierung bieten ihnen Sonnenstand, Landschaftsstrukturen und das Erdmagnetfeld. Der Winter wird also nicht „überstanden“, sondern schlicht umgangen. Erst ihre Nachkommen oder zurückkehrende Generationen tauchen im Frühjahr wieder bei uns auf. Diese Wanderungen sind keine romantischen Ausflüge, sondern eine nüchterne energetische Entscheidung: Wo es keine Nahrung gibt, lohnt sich kein Verharren. Ausharren als Falter – Überwintern im Stillstand Nur wenige unserer heimischen Tagfalter überstehen den Winter als ausgewachsener Schmetterling. In Baden-Württemberg sind es lediglich sechs Arten: Tagpfauenauge, Kleiner und Großer Fuchs, C-Falter, Trauermantel und der Zitronenfalter. Sie suchen im Spätherbst geschützte Orte auf – Baumhöhlen, Felsspalten, Holzschuppen, Scheunen, Keller oder Dachböden. Dort hängen sie reglos, oft kopfüber, und fallen in eine Winterstarre. Winterstarre bedeutet: Der Stoffwechsel wird auf ein Minimum heruntergefahren, Bewegung eingestellt, Energie gespart. Jeder unnötige Reiz kostet Reserven. Genau hier lauert eine der größten Gefahren durch den Menschen: die sogenannte Wärmefalle. Steigt die Umgebungstemperatur dauerhaft über etwa zwölf Grad – etwa durch eine Heizung – erwachen die Falter. Sie flattern umher, verbrauchen Energie, finden aber keine Nahrung. Bleiben sie in der Wärme, verhungern sie. Setzt man sie unbedacht ins Freie, droht der Kältetod. Entscheidend ist daher ein kühler, frostfreier Ort mit der Möglichkeit, im Frühjahr wieder ins Freie zu gelangen. Der Sonderfall Zitronenfalter – Frostschutz aus eigener Produktion Der Zitronenfalter nimmt unter den heimischen Arten eine Sonderstellung ein. Er überwintert als einziger mitteleuropäischer Schmetterling ungeschützt im Freien, oft im trockenen Laub am Boden oder am Fuß von Bäumen. Möglich macht das ein körpereigenes Frostschutzsystem: Durch die Anreicherung seiner Körperflüssigkeiten mit Glycerin, Sorbit und Eiweißen senkt er den Gefrierpunkt so stark ab, dass Temperaturen bis minus zwanzig Grad überstanden werden können. Selbst schneebedeckte Zitronenfalter wurden schon gefunden – reglos, aber lebendig. Diese Fähigkeit erklärt auch sein ungewöhnlich langes Leben: Während viele Falter nur wenige Wochen leben, kann der Zitronenfalter fast ein Jahr alt werden. Er legt lange Ruhephasen ein – im Sommer wie im Winter – und startet im Frühjahr oft als einer der ersten Schmetterlinge in die neue Saison. Verwandlungspause – Winter als Entwicklungszeit Für die Mehrheit der Schmetterlinge gilt jedoch: Nicht das erwachsene Tier überlebt den Winter, sondern der Lebenszyklus. Viele Arten sterben im Herbst nach der Fortpflanzung. Gesichert wird nicht das Individuum, sondern die nächste Generation. Ein Teil der Arten überwintert als Puppe. Schwalbenschwanz, Aurorafalter oder Landkärtchen sind dann gut geschützt in einer Chitinhülle, angeheftet an Pflanzenstängeln, verborgen im Boden oder eingesponnen in Kokons. Andere Arten gehen als Raupe in den Winter – etwa Bläulinge, Schillerfalter oder das Schachbrett. Manche verkriechen sich unter Rinde oder Laub, andere bauen sich spezielle Gespinste, sogenannte Hibernarien. Wieder andere harren nahezu schutzlos an ihren Futterpflanzen aus. Auch das Ei kann ein Winterquartier sein, etwa beim Apollofalter oder Nierenfleck-Zipfelfalter. Winzig, unscheinbar und erstaunlich widerstandsfähig trotzen diese Entwicklungsstadien Frost, Trockenheit und Zeit. Energie sparen um jeden Preis Allen Strategien gemeinsam ist ein zentrales Prinzip: Energie. Im Winter gibt es keine Blüten, keinen Nektar, kaum Möglichkeiten zur Nahrungsaufnahme. Deshalb wird gespart, gedrosselt, stillgelegt. Jede Störung – Bewegung, Wärme, falsches Umsetzen – kann den fein austarierten Energiehaushalt kippen. Der Winter ist für Schmetterlinge keine Schlafenszeit, sondern ein biologischer Ausnahmezustand. Klimawandel – wenn der Winter aus dem Takt gerät Zunehmend problematisch sind milde Winterphasen. Warme Tage im Februar oder März können überwinternde Falter aus der Starre holen. Sie erwachen, finden jedoch noch keine Nahrung. Kommt danach erneut Frost, überleben viele diese zweite Kältephase nicht. Der Klimawandel verändert damit nicht nur Temperaturen, sondern ganze Zeitpläne – und stellt besonders überwinternde Falter vor neue Risiken. Was wir tun können – helfen durch Nichtstun Der wichtigste Beitrag des Menschen ist oft Zurückhaltung. Wer überwinternde Falter entdeckt, sollte sie nicht stören. Gärten profitieren von Unordnung: liegen gelassenes Laub, stehen gelassene Stängel, Reisig- und Steinhaufen bieten lebenswichtige Winterquartiere. Gartenhäuser, Schuppen oder unbeheizte Garagen können helfen – vorausgesetzt, sie bleiben kühl und bieten im Frühjahr einen Ausgang ins Freie. Findet man einen Falter in einem beheizten Raum, ist behutsames Umsiedeln gefragt: vorsichtig in eine Pappschachtel setzen, kühl und frostfrei unterbringen, Flügel niemals berühren. Und im Frühling: Türen, Fenster und Luken öffnen. Wenn dann die ersten sonnigen Tage kommen und ein Zitronenfalter gelb durch den noch kahlen Garten flattert, ist das kein Wunder. Es ist das sichtbare Ende eines langen, stillen Winters – und der Beweis, dass Überleben manchmal vor allem eines braucht: Ruhe. Sonderfall Winterliebe: Der Frostspanner Während die meisten Schmetterlinge den Winter meiden, verschlafen oder in andere Entwicklungsstadien auslagern, gibt es Arten, die der Kälte bewusst entgegentreten. Ein besonders anschauliches Beispiel sind die Frostspanner. Wer im Spätherbst oder frühen Winter nachts durch Wälder oder an Baumreihen entlangfährt, kann sie im Lichtkegel der Scheinwerfer entdecken: kleine, helle Falter, die scheinbar unbeeindruckt von Frost und Dunkelheit umherflattern. Biologisch betrachtet ist dieses Verhalten ebenso kühn wie klug. Beim Kleinen Frostspanner (Operophtera brumata) und beim Großen Frostspanner (Erannis defoliaria) erscheinen die erwachsenen Falter erst sehr spät im Jahr – meist ab November, manchmal sogar noch bei leichtem Frost. Die Männchen sind flugfähig und auf nächtlicher Suche nach Weibchen, die hoch oben in den Baumkronen sitzen. Diese wiederum besitzen keine Flügel. Stattdessen klettern sie an Baumstämmen empor und senden von dort intensive Sexualduftstoffe aus, sogenannte Pheromone, die die Männchen zuverlässig anlocken. Der Winter bietet den Frostspannern dafür ideale Bedingungen. Viele ihrer natürlichen Feinde sind zu dieser Jahreszeit nicht aktiv: Fledermäuse halten Winterruhe, Zugvögel sind längst im Süden, und auch die Konkurrenz anderer Nachtfalter ist minimal. Kälte wird hier nicht zum Hindernis, sondern zur strategischen Bühne für die Fortpflanzung. Nach der Paarung legen die Weibchen ihre winzigen Eier gut versteckt in Rindenritzen ab. Die erwachsenen Tiere selbst leben nur wenige Tage; ihre Mundwerkzeuge sind verkümmert, Nahrung nehmen sie nicht mehr auf. Im Frühjahr schlüpfen die Raupen pünktlich zum Blattaustrieb. Vor allem die grünen Raupen des Kleinen Frostspanners sind dann gefräßig und können Bäume zeitweise kahl fressen – ein Anblick, der dramatischer wirkt, als er ist. Die meisten Gehölze treiben problemlos wieder aus. In naturnahen Gärten regulieren Vögel wie Kohlmeisen den Raupenbestand ganz von selbst. Eine weitere Besonderheit verbindet die Frostspanner mit anderen Überwinterungsstrategen der Insektenwelt: In ihren ersten Lebenstagen lassen sich die Jungraupen mithilfe feiner Seidenfäden vom Wind verdriften. Dieses sogenannte „Ballooning“ sorgt dafür, dass sich die nächste Generation im Lebensraum verteilt – ein leiser, luftiger Neuanfang nach einem Winter, der für ihre Eltern das Ende bedeutete. Der Frostspanner zeigt damit eindrucksvoll, dass Überwinterung nicht immer Rückzug oder Starre bedeutet. Manchmal heißt sie auch: hinausgehen in die Kälte, wenn sonst niemand mehr unterwegs ist – und genau dort erfolgreich sein. Quellen: Schmetterlingen in der Wohnung helfen Überwinterung der Schmetterlinge, NABU Baden-Württemberg Wie überwintern Schmetterlinge? - Plantura Schmetterlinge überwintern: Hier finden sie ein Winterquartier | kraut&rüben Schmetterlinge im Winter - NABU NRW Frostspanner: Duftendes Liebeswerben in kalten Nächten - NABU aktion tier – Menschen für Tiere e.V.: Überwinterungsstrategien unserer Schmetterlinge und wie man ihnen helfen kann
von Alexandra Abredat 13. Dezember 2025
Wenn der Herbst Einzug hält und die Temperaturen sinken, scheinen Spinnen plötzlich vom Erdboden verschluckt zu sein. In Wirklichkeit haben sie höchst durchdachte Strategien entwickelt, um die frostigen Monate zu überstehen. Als wechselwarme Tiere übernehmen sie die Temperatur ihrer Umgebung, werden bei Kälte träge und müssen ohne geeignete Schutzmaßnahmen erfrieren – was die Natur durch ausgeklügelte Überlebensmechanismen verhindert. Viele heimische Spinnenarten ziehen sich in bodennahe Strukturen zurück: Laubschichten, Streu, Totholz, Steinhaufen oder Hohlräume unter Baumrinden bieten hervorragenden Schutz vor Kälte und Austrocknung. Rund 80 Prozent der Arten nutzen diese Bodenüberwinterung und fallen in eine Kältestarre, bei der Stoffwechsel und Beweglichkeit stark reduziert sind. Um Zellschäden durch Eisbildung zu verhindern, produzieren viele Spinnen körpereigene Frostschutzstoffe aus Zucker, Glycerin oder Aminosäuren. Auf diese Weise überstehen sie selbst Temperaturen bis minus 20 Grad Celsius – reglos, aber lebendig. Nicht alle Spinnen überwintern als adulte Tiere. Bei vielen endet der Lebenszyklus im Herbst, nachdem die Weibchen Eier in isolierten Kokons abgelegt haben. Die Gartenkreuzspinne (Araneus diadematus) ist ein bekanntes Beispiel: Während die erwachsenen Tiere sterben, überwintern die Eier geschützt im Kokon, der aus mehreren Schichten Spinnseide besteht. Andere Arten, wie der Ammen-Dornfinger (Cheiracanthium punctorium), treiben elterliche Fürsorge auf die Spitze: Nach dem Schlupf der Jungtiere stirbt das Weibchen im Gespinst und dient dem Nachwuchs als Nahrung – makaber, aber äußerst effizient. Manche Spinnen nutzen die Nähe zum Menschen. Hauswinkelspinnen und Zitterspinnen haben sich perfekt an Wohnungen, Keller und Garagen angepasst und sind dort das ganze Jahr über aktiv. Sie wirken oft fehl am Platz, erfüllen aber eine nützliche Aufgabe: Als Insektenjäger halten sie Fliegen, Motten und Stechmücken in Schach. Ihre feinen Körperhaare dienen dabei als hochsensible Sinnesorgane, mit denen sie selbst kleinste Bewegungen wahrnehmen – fast so, als hörten sie jedes Niesen einer Mücke. Besonders eindrucksvoll ist die Nosferatu-Spinne (Zoropsis spinimana). Seit ihrer Entdeckung 2005 in Deutschland breitet sie sich aus dem Mittelmeerraum stammend zunehmend im Südwesten aus. Groß, langbeinig und auffällig gemustert, kann sie zwar theoretisch zubeißen, tut dies aber nur bei direkter Bedrängnis – die Folgen für Menschen sind in der Regel harmlos. Dafür ist sie ein effizienter nächtlicher Jäger, der die Fliegenpopulation klein hält. Nicht alle Arten bleiben inaktiv. Einige, wie die Baldachinspinnen (Linyphiidae), bauen auch im Winter Netze in Bodennähe und treiben ihre kleinen Flugfäden durch den Wind. Andere benötigen die Kälte sogar für ihre Entwicklung: Weberknechte (Opiliones), nahe Verwandte der Spinnen, sterben als adulte Tiere, während ihre Eier den Frost benötigen, um sich optimal zu entwickeln. Ein besonders spektakulärer Überwinterungsfall ist die Wasserspinne (Argyroneta aquatica). Sie bezieht ein leeres Schneckenhaus, füllt es mit Atemluft, verschließt die Öffnung mit Spinnseide und lässt sich an die Wasseroberfläche treiben. Dort friert das Häuschen ein, bis im Frühjahr alles wieder auftaut – eine clevere, beinahe schon technische Lösung für frostige Monate. Experten wie Dr. Hubert Höfer von der Arachnologischen Gesellschaft e. V. (AraGes) bestätigen: Spinnen überwintern in Mitteleuropa in unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Während viele erwachsene Tiere sterben, sichern Eier, Jungtiere oder kälteresistente Erwachsene den Fortbestand der Population. Die AraGes widmet sich der Erforschung dieser Strategien und der Vermittlung fundierten Wissens über heimische Spinnentiere. Für den Menschen bedeutet dies: ein wenig Nachsicht im Haus und Garten reicht aus, um Spinnen das Überwintern zu erleichtern. Laub, ungemähte Wiesen, Holz- und Steinhaufen dienen nicht nur Spinnen, sondern auch Igeln, Siebenschläfern und anderen Tieren als sichere Winterquartiere. Wer eine Spinne im Haus entdeckt, sollte sie umsiedeln statt töten – Glas und Papier genügen meist. Am Ende wird deutlich: Spinnen verschwinden im Winter nicht, sie verziehen sich nur an strategisch clevere Orte. Ob in Kokons, unter Laub, in frostgeschützten Bodenverstecken oder sogar in menschlichen Häusern – sie sind Überlebenskünstler. Und wenn wieder eine achtbeinige Gestalt im Keller auftaucht, ist das kein Grund zur Panik. Sie hat sich schlicht den wärmsten und sichersten Platz ausgesucht – und nebenbei die lästige Mückenpopulation reduziert. Wer möchte, kann diesem kleinen Mitbewohner also fast dankbar sein. Quellen: Spinnen: Dulden oder raussetzen? - NABU BW Wie überwintern heimische Spinnen wie die Kreuzspinne? WIE ÜBERWINTERN INSEKTEN UND SPINNEN? - Insektum Wo sind die Spinnen im Winter? „Gefrierschutzmittel“ im Blut: Wie Spinnen den Winter überleben
von Alexandra Abredat 27. November 2025
An einem Donnerstagmorgen Ende November machten meine Freundin und ich uns auf den Weg nach Südtirol. Sechs Stunden Fahrt waren geplant, und tatsächlich passte alles wie am Schnürchen: kein Stau, keine Verzögerungen, nur der Neuschnee, der ab und zu die Konzentration einforderte. Die Winterlandschaft draußen war zwar schön anzusehen, machte die Fahrt aber auch anstrengend, sodass wir froh waren, als wir schließlich in Kloster Neustift ankamen. Es war mein zweiter Besuch in diesem Kloster, und wie beim ersten Mal im Winter beeindruckte mich erneut die Atmosphäre: ruhig, harmonisch, irgendwie zeitlos. Nach dem Einchecken erwartete uns ein Abendessen, das keine Wünsche offenließ – Käse, Wurst, frisches Brot, alles sorgfältig angerichtet. Danach begann das Seminar, auf das ich mich schon lange gefreut hatte: Wein und Schokolade in allen erdenklichen Kombinationen. Manche Weine gefielen mir zunächst überhaupt nicht, aber in Verbindung mit der Schokolade verwandelte sich jede kleine Überraschung in ein Geschmackserlebnis. Es war spannend zu beobachten, wie süße, bittere oder fruchtige Nuancen miteinander verschmolzen und plötzlich ganz neue Aromen entstanden. Glücklicherweise war das Zimmer nicht weit entfernt, was nach einem langen Tag eine willkommene Erleichterung war. Trotzdem musste ich feststellen, dass die Kombination aus Anreise und Seminar doch recht anstrengend gewesen war – nächstes Mal würde ich wohl einen Tag früher anreisen, um den Kopf frei zu haben. Das Kloster selbst ist ein Ort mit Geschichte und Seele. Gegründet im Jahr 1142, beherbergt es heute nicht nur Chorherren, sondern auch ein Bildungshaus, eine Vinothek und einen beeindruckenden Garten. Die Kombination aus Tradition, Gastfreundschaft und moderner Nutzung machte den Aufenthalt besonders angenehm. Ich konnte durch die Gänge und Innenhöfe schlendern, die Basilika betrachten und die Ruhe genießen, ohne dass Hektik oder Lärm die Stimmung störten. Für das Seminar war Neustift der perfekte Ort: eine Mischung aus Kultur, Kulinarik und Gelassenheit, die man sonst selten findet. Auch wenn mir nicht jeder Wein schmeckte, so war doch jeder Moment spannend und inspirierend – besonders in Kombination mit der Schokolade. Am Ende des Tages fühlte ich mich rundum zufrieden: satt, ein wenig beschwingt und voller Eindrücke, die noch lange nachwirkten. Im Fazit bleibt für mich, dass ich Kloster Neustift jederzeit wieder besuchen würde – vielleicht beim nächsten Mal im Sommer, um die Gärten und die Umgebung noch intensiver genießen zu können.
von Alexandra Abredat 16. November 2025
Der Morgen dämmerte über dem alten Laubwald wie ein langsamer Atemzug. Ein milder Wind strich durch die Wipfel der Eichen und Buchen, und die ersten Sonnenstrahlen tropften wie goldener Honig durch die Zweige. Ein Duft nach feuchter Erde, Moderholz und dem harzigen Knistern der Nadelbäume lag in der Luft – ein Duft, der jedem Waldbewohner sofort sagte: Heute wird ein guter Tag. Zumindest hätte es ein guter Tag werden können, wäre da nicht Sciurus gewesen, das Eichhörnchen, das seit Sonnenaufgang schon fünfzehnmal um denselben Baumstamm gelaufen war. Seine buschige Rute peitschte hin und her, seine dunklen Augen funkelten, und seine Pfoten nestelten an etwas, das nur mit viel Vorstellungskraft wie ein Vorratsversteck aussah. In Wahrheit war es ein Loch, das Sciurus schon dreimal wieder geleert hatte, weil er vergessen hatte, was er hineingelegt hatte – und ob er es überhaupt hineingelegt hatte. Sciurus stieß ein kurzes, schnalzerartiges Geräusch aus – ein typischer Ruf, den Eichhörnchen ausstoßen, wenn sie aufgeregt oder wütend sind. Dabei stampfte er schnell mit den Pfoten auf den Boden, als wollte er die Welt warnen: „Ich bin hier, und ich bin wütend!“ – und sprang gegen den Baumstamm, rutschte zwei Fingerbreit wieder ab und startete den nächsten Sprint nach oben. Eine Eichel löste sich aus seinem Maul, fiel hinunter, rollte über das Moos und blieb genau vor Hans’ Pfoten liegen. Hans, der Igel, stand da wie immer: rund, stachelig, warmherzig und mit einer Ruhe, die nur jemand hatte, der das Atmen zur Kunstform erhoben hatte. Seine Nase schnupperte sanft in der Luft. Er hob den Kopf, blinzelte langsam und sagte in seinem ruhigen Tonfall, der jeden Stress ausschalten konnte: „Guten Morgen, Sciurus. Die Eichel scheint dringend mit mir sprechen zu wollen.“ Das Eichhörnchen sprang im Zickzack hinunter, wippte mit seinem Schwanz und rief: „Hans! Ich hab’s verloren! Ich hab ALLES verloren! Und ich glaube, ich hab mich selbst auch irgendwie verloren!“ Hans beugte sich sehr langsam hinunter, so langsam, dass selbst der Wind geduldiger wurde, und stupste die Eichel zurück. „Sie ist hier. Und du bist auch hier. Nichts ist verloren.“ „Doch!“, quietschte Sciurus. „Ich hab gerade ein Geräusch gehört! Ein riesiges! Es klang wie KRRRRSCH! So laut! Vielleicht ein Ast. Oder ein Wolf. Oder ein Ast, der aussieht wie ein Wolf! Oder eine Schlange mit Holzrinde! Oder—“ Hans hob eine Pfote. Langsam. Bedächtig. Und sofort schwieg Sciurus, denn alle Tiere wussten: Wenn Hans langsam eine Pfote hob, begann gleich eine kleine Weisheit. Doch bevor Hans sprechen konnte, durchzuckte ein scharfes, kurzes „Dib!“ die Luft. Robin Rubecula – das Rotkehlchen – landete auf einem dünnen Ast über den beiden. Ihre rote Brust funkelte im Gegenlicht, ihr Kopf zuckte aufmerksam hin und her. „Alarmruf!“, rief sie. „Kein Grund zur Panik, aber Vorsicht bitte. Irgendetwas hat sich im Unterholz bewegt. Eher groß. Eher plump. Nicht gefährlich – glaube ich. Aber… hmm.“ Sie hüpfte zwei Schritte nach vorn, plusterte sich und stieß ein schrilles „Ziih!“ aus – ein deutlicher Warnruf, aber einer von der harmlosen Sorte, wie Hans bemerkte. „Groß und plump?“ Sciurus’ Stimme überschlug sich. „Das ist bestimmt etwas Gefährliches! Groß-plump-gefährlich ist eine ganz typische Kategorie für … äh … irgendwas Bedrohliches!“ Hans atmete tief ein. Gerade wollte er Sciurus beruhigen, da raschelte es wirklich im Unterholz. Sehr laut. Sehr plump. Sehr… ungeschickt. Der Wald hielt den Atem an. Sciurus sprang senkrecht nach oben. Seine Rute stand wie ein Staubwedel unter Strom. Seine Augen wurden riesig. Für einen Herzschlag lang hing er regungslos in der Luft wie ein Eichhörnchen, das so tat, als wäre es ein Blatt. Dann passierte alles gleichzeitig. Freeze. Sciurus erstarrte. Sein Körper war steif, seine Pupillen so weit, dass sie fast das ganze Auge einnahmen. Ein leises Zittern ging durch ihn, fast unmerklich – außer für Hans, der jedes Zittern der Welt wahrnahm, wie es schien. Evolutionär ist das Erstarren die älteste Schutzreaktion: Bewegungslosigkeit kann Raubtiere täuschen, die Bewegung besser wahrnehmen als Form. In seinem Körper aktivierte die Amygdala sofort den Alarm, der Hypothalamus löste die Kaskade aus, Nebennierenmark pumpt Adrenalin – ein orchestrierter Schutzmechanismus, geboren aus Millionen Jahren Anpassung. Flight. Im nächsten Moment schoss Sciurus los. Ein roter Pfeil. Ein flauschiger Blitz. Er rannte, sprang, kletterte, rutschte, stürzte, rannte weiter. Das Herz raste, die Muskeln brannten, das Blut rauschte in seine Extremitäten. Flucht – eine Reflexhandlung, die Energie mobilisiert, um Leben zu retten. Noradrenalin schärfte seine Sinne, Dopamin ließ ihn fokussiert reagieren, instinktiv, schnell, unbewusst. Fight. Doch mitten in der Flucht kehrte Sciurus plötzlich um. Er riss eine alte, heruntergefallene Buchecker vom Boden, warf sie energisch in die Richtung des Raschelns und quietschte: „Los! Zeig dich! Ich bin bewaffnet!“ Fight – Kampf – aktiviert dieselbe Energie wie Flight, aber kanalisiert sie gegen ein Hindernis. Mut, Kraft, Fokus – nicht zur Verletzung, sondern zur Selbstverteidigung. Hans seufzte. Robin gluckste. Und genau in diesem Moment schob sich ein roter, buschiger Schwanz aus dem Unterholz, gefolgt von einer weißen Brust und wachen, freundlichen Augen. „Ihr wirkt etwas… beschäftigt?“, fragte Herr Fuchs höflich, trat heraus und schüttelte ein paar Blätter aus seinem Fell. „Ich hoffe, ich habe niemanden erschreckt.“ Sciurus sank auf ein Moospolster und japste. „Herr… Herr Fuchs… Ich dachte schon“ „Das war nur ich“, sagte Herr Fuchs. „Ich habe mich etwas ungeschickt angestellt. Diese Brombeer-Ranken sind heute anscheinend meine persönlichen Feinde.“ Robin flog ein paar Kreise über dem Fuchs, überprüfte sein Fell und stellte fest: keine Tropfen Blut, keine auffällige Anspannung. „Entwarnung! Alles in Ordnung. Herr Fuchs hat sich nur mit einem Strauch geprügelt.“ „Er hat angefangen“, murmelte Herr Fuchs. Hans trat näher, blieb jedoch in angenehmem Abstand – er war schließlich ein Igel, kein Kuscheltier – und sprach in seinem beruhigenden Tonfall: „Sciurus hat gerade drei Stressreaktionen in weniger als drei Herzschlägen durchlaufen.“ „Drei?“, japste Sciurus. „Ich dachte, es waren hundert!“ „Drei“, sagte Hans. „Freeze. Flight. Fight. Sie sind uralte Instinkte. Viel älter als wir. Evolutionär entwickelt, damit kleine Tiere überleben, wenn Raubtiere lauern. Dein Körper reagiert schneller als dein Verstand.“ Herr Fuchs nickte. „Einfach ausgedrückt: Die Instinkte haben das Kommando übernommen. Dein Nervensystem wusste schon: Gefahr! – bevor du darüber nachdenken konntest.“ Robin zwitscherte: „Und das Zittern, das Pochen im Bauch, die wachsende Wachsamkeit? Das ist deine innere Wahrnehmung. Gefühle sind Signale deines Körpers – Informationen über die Umgebung und deinen inneren Zustand. Wer sie versteht, kann bewusst handeln.“ Sciurus nickte langsam, zum ersten Mal seit dem Schreck nicht völlig aufgeregt. Hans begann die kleine Coaching-Stunde des Waldes: Freeze: Erstarren schützt, gibt Zeit, zu beobachten. Amygdala, Hypothalamus, Adrenalin-Kaskade. Flight: Flucht aktiviert Herz, Muskeln, Atmung; Noradrenalin, Dopamin, schnelle Wahrnehmung. Fight: Kampf kanalisiert Energie, Mut und Fokus. Nicht Angriff aus Hass, sondern Selbstschutz. Robin und Herr Fuchs ergänzten: Wahrnehmung, Atmen, Pausen, soziale Rückversicherung. Sciurus lernte: Mut heißt nicht, keine Angst zu haben. Mut heißt, trotz Angst bewusst zu handeln. Sein schnelles Herz war kein Defekt, sondern ein Geschenk der Evolution, ein System, das Leben rettet. Der Nachmittag glitt in warmes Gold über. Pollen tanzten wie Magie. Ameisen liefen über Moossteine, ein Schwarzspecht rauschte über die Baumkronen. Sciurus lag ausgestreckt auf dem Moos, langsam beruhigt. „Ich dachte immer, mein schnelles Herz bedeutet, dass ich kaputt bin. Aber vielleicht bedeutet es einfach nur, dass ich lebendig bin.“ „Und wachsam“, fügte Robin hinzu. „Und kreativ“, sagte Herr Fuchs. „Und du selbst“, sagte Hans. Der Wald atmete mit ihnen. Niemand war allein. Ein sanfter Wind fuhr durch die Bäume, löste Staubpartikel, die wie schwebende Lichtfunken glitzerten – vielleicht Magie, vielleicht Staub. Sciurus fing einen Lichtfunken ein. „Ich glaube“, sagte er leise, „ich kann jetzt wieder ruhig atmen.“ Hans lächelte. „Dann hat der Wald heute gut gearbeitet.“ „Und du auch“, sagte Sciurus. „Und du“, sagte Hans. Robin zwitscherte ein warmes „Dib“. Herr Fuchs verneigte sich leicht. Dann senkte sich der Abend über die Tiere, sanft und schützend wie die Decke des Waldes. Irgendwo tief im Herzen des Waldes, dort wo die Magie wohnt, die nur jene sehen, die ruhig genug geworden sind, flackerte ein kleines Licht. Warm. Still. Ein Atemzug des Waldes. Quellen: Fight, Flight, Freeze - Resilienz-Akademie Kampf-oder-Flucht-Reaktion – Wikipedia Fight, Flight, or Freeze - Mindscape Eichhörnchen - Tier-Steckbrief - für Kinder & Schule
von Alexandra Abredat 15. November 2025
Es war einmal ein Österreicher namens Ignaz Edler von Mitis (1771-1842), der im Jahr 1805 beim Herumexperimentieren mit Grünspan auf etwas stieß, das zugleich strahlend und gefährlich war. Ein Pigment, das in seiner Farbe so leuchtend erschien wie ein frisch geschlüpftes Küken und in seiner chemischen Wirkung so heimtückisch wie ein Drache, der nachts durch ein Kinderzimmer schleicht. Man nannte es zunächst Mitisgrün. Doch wie es im Märchen so ist, musste diese Entdeckung erst den richtigen Ort finden, um ihr volles Potenzial zu entfalten. Dieser Ort war Schweinfurt, und Wilhelm Sattler, der um 1808 die industrielle Produktion des Pigments begann, brachte Mitisgrün zum Glänzen. Schweinfurter Grün, wie es später bekannt werden sollte, war geboren. Dieses Grün war mehr als nur ein dekoratives Element. Es leuchtete, glänzte und hatte die Fähigkeit, Tapeten, Stoffe und Künstlerpaletten zum Strahlen zu bringen. Ballkleider glitzerten smaragdgrün im Kerzenschein, französische Impressionisten tauchten Himmel und Bäume in ein Funkeln, das die Welt in ein magisches Licht tauchte. Doch hinter dieser Schönheit lauerte eine Gefahr. Bereits 1844 wies der Arzt Carl von Basedow nach, dass ein kleiner Pilz, der sich auf leimgebundenem Schweinfurter Grün ansiedelte, organische Arsenverbindungen freisetzen konnte, genug, um die Atemluft zu vergiften. Kein Wunder also, dass die Verwendung dieses Pigments in Wohnräumen bereits 1882 verboten wurde. Die Farbe selbst war ein Chamäleon. Sie hatte viele Namen, die in den Salons und Werkstätten Europas kursierten: Pariser Grün, Patentgrün, Wiener Grün, Papageiengrün, Kaisergrün. Manche nannten sie schlicht Giftgrün, andere verbanden sie gar mit historischen Spekulationen über den Tod Napoleons auf Sankt Helena. Moderne Untersuchungen aus dem Jahr 2008 beruhigten jedoch die Gemüter: Das Pigment war wohl unschuldig, Napoleons Haar enthielt schon vorher Arsen, und Schweinfurter Grün hatte ihm lediglich eine dramatische Note verliehen. Die Herstellung des Pigments war eine kleine chemische Zauberei. Grünspan und Arsen wurden zusammengekocht, zunächst entstand ein flockiger, schmutzig-grüner Niederschlag, der wenig glamourös wirkte. Doch nach einigen Tagen bildeten sich mikroskopisch kleine Kristalle, die in allen Nuancen von Grün funkelten. Wer wollte, konnte das Pulver noch weiter sieden, bis die Farbe besonders deckend wurde. Perfekt für Öl- und Lackfarben, weniger geeignet für Tapeten, aber umso wirksamer, um Gemälde und Stoffe in leuchtenden Grüntönen zu verzaubern. Wer mit der Farbchemie vertraut war, konnte Schweinfurter Grün noch vielseitiger einsetzen. Mischt man es mit Gips, Bleiweiß oder Chromgelb, entstanden neue Nuancen mit eigenen Namen: Berggrün, Mitisgrün, Papageigrün, Maigrün – fast achtzig Varianten waren überliefert. Jede Nuance schien ihre eigene Persönlichkeit zu besitzen, und die Künstler liebten diese Vielfalt, die es ihnen erlaubte, Stimmungen und Licht in immer neuen Grüntönen zu malen. Trotz seiner Schönheit war Schweinfurter Grün ein gefährlicher Begleiter. Sein Glanz lockte, aber seine chemische Natur bedrohte Leben. Heute mag man meinen, dass Schweinfurter Grün längst aus der Welt verschwunden sei, doch es taucht noch immer auf, leise und heimlich. In Museen und Bibliotheken, in alten Gemälden und Einbänden historischer Bücher, in restaurierten Räumen oder bei der Rekonstruktion alter Tapeten findet sich das Grün, das einst ganze Salons erleuchtete. Wer es heute betrachtet, sollte Vorsicht walten lassen, denn auch wenn es längst keinen Tod mehr bringt, erinnert seine Geschichte an die feine Grenze zwischen Schönheit und Gefahr, zwischen Kunst und Chemie. Nachdem das Schweinfurter Grün seinen giftig-glänzenden Auftritt hinter sich hat, lohnt sich ein Blick auf das große Ganze: das Grün an sich. Diese Farbe, die sich so unschuldig gibt wie eine Frühlingswiese nach Regen, ist in Wahrheit ein kleines optisches Wunder. Grün erscheint uns nur dann, wenn Licht unser Auge mit Wellenlängen zwischen 520 und 565 Nanometern kitzelt. Ganz gleich, ob dieses Licht direkt von einer Lampe kommt oder von einer Oberfläche fröhlich zurückgeworfen wird – mindestens eine Handvoll Photonen muss in diesem Spektralbereich tanzen, damit wir „Ah, Grün!“ rufen. Das Wort „grün“ stammt vom althochdeutschen gruoen, und das hieß so viel wie „wachsen“, „sprießen“ und „gedeihen“. Alles das, was man im Frühjahr beobachten kann, wenn die Natur aus einem langen Winterschlaf erwacht und in die Farbtöpfe greift. Kein Wunder also, dass Grün in so vielen Kulturen die Farbe der Hoffnung ist – wer wächst, hat schließlich Pläne. In der Magie der Farbenlehre ist Grün eine der Grundfarben der additiven Farbmischung, neben Rot und Blau, und in der subtraktiven Farbmischung entsteht es, wenn Gelb und Cyan gemeinsame Sache machen. Während Grün fröhlich funkelt, lauert am Rand des Farbkreises sein Gegenspieler: Magenta, die Komplementärfarbe, mit der Grün sich gerne harmonisch oder dramatisch zofft, je nach Laune des Designers. Wer das Grün lieber in festen Formen bewundert, begegnet einer unendlichen Vielfalt an Schattierungen, von giftigen bis zu sanften Tönen, die Künstler, Designer und Naturbewunderer gleichermaßen verzaubern. Warum ist die Welt voller Grün? Schuld daran ist das Chlorophyll, das Pflanzenblut, das genau die roten und blauen Lichtanteile verschluckt, aber das Grün fröhlich zurücklässt. Deshalb strahlen Kastanien im Frühling, Walnussbäumchen im Garten und ganze Wälder im Sommer in allen Schattierungen von grasig bis dunkelgründelnd. Sobald der Herbst Einzug hält, gibt das Chlorophyll das Feld frei, und plötzlich stehen Gelb und Rot im Rampenlicht. Und im Winter? Da müssen wir uns mit Tannengrün trösten – dem letzten Tapferen, das die Farbflagge im Dezember hochhält. Grün ist nicht nur die Farbe der Natur, sondern auch ein Träger von Emotionen. Es steht seit alten Zeiten für Liebe im Aufblühen, und wenn jemand „ergrünt“, geht es meistens um Gefühle. Grün kann aber auch Misstrauen und Ablehnung symbolisieren, wie die Redensart „jemandem nicht grün sein“ zeigt. Dazu kommen noch die unreifen Früchte, die der Sprache die Worte „Grünschnabel“ und „grün hinter den Ohren“ geschenkt haben. Und natürlich Shakespeares berühmte „green-eyed jealousy“, die Eifersucht in funkelnden Augen beschreibt. Ironischerweise sind grüne Augen biologisch gar nicht grün. Sie entstehen durch eine Mischung aus wenig Melanin im Stroma und gebrochenem blauen Licht, das durch die Iris reflektiert wird, ein kleines Naturwunder, das die Illusion von Farbe erzeugt. Die Pigmente der grünen Welt waren für die Menschheit immer ein besonderes Geschenk, aber auch eine Gefahr. In der Malerei dienten Chromoxide, basisches Kupferkarbonat, Kobaltverbindungen sowie Mineralien wie Malachit, Chrysokoll oder Dioptas dazu, die Welt in Grün zu tauchen. Die sanften, erdigen Töne von Veroneser Grün oder Böhmischer Erde begleiteten Künstler über Jahrhunderte, während Schweinfurter Grün als glamouröses und zugleich giftiges Abenteuer in dieser Palette thronte. Doch Grün ist nicht immer Pigment. Ein Kolibri, der wie ein Edelstein glitzert, eine Goldwespe, die metallisch schimmert, Schmetterlingsflügel, die je nach Blickwinkel die Farbe wechseln – all dies sind Interferenzfarben. Die Oberflächen dieser Lebewesen sind oft gar nicht grün; sie spalten Licht in mikroskopischen Schichten und werfen es so zurück, dass unser Auge die Farbe wahrnimmt. Die Natur war schon immer die beste Designerin, und ihre kleinen Tricks sorgen dafür, dass wir das Grün als schillernd, lebendig und manchmal fast magisch erleben. Auch als Symbol spielt Grün eine unermessliche Rolle. Im Umweltschutz wurde Chlorophyll zum Logo, und die politische Partei Die Grünen machte es zur Namensfarbe. Im Christentum steht Grün für Auferstehung, Hoffnung und liturgische Ruhe, im Islam symbolisierte es das Paradies und Leben, weil der Prophet Mohammed Grün bevorzugte. In China wird Grün mit Frühling und Osten assoziiert, während es in Technik und Bürokratie als Signalfarbe für Funktionstüchtigkeit und Ordnung dient. Grün weist den Weg, signalisiert Erlaubnis, markiert den ordnungsgemäßen Zustand von Maschinen und Geräten und erfüllt selbst in der Verkehrsführung die Rolle eines unsichtbaren Regulators. Grün kann aber auch gefährlich sein. Die intensivsten und leuchtendsten Töne wurden in der Geschichte oft als Giftgrün bezeichnet. Schweinfurter Grün, Chromgrün und Kupferacetat waren frühe Beispiele für die faszinierende, aber gefährliche Seite des Farbreizes. Übertragen auf die Symbolik steht Grün für Leben, aber auch für Krankheit, Gier und Neid, was sich in Redewendungen wie „grün vor Neid“ oder in der fahlen Gesichtsfarbe bei Krankheit ausdrückt. Grün begleitet den Menschen in allen Bereichen des Lebens. British Racing Green macht seit dem frühen 20. Jahrhundert Autos schneller – zumindest optisch. Eisenbahnwagen waren jahrzehntelang grün lackiert, weil das Pigment robust, lichtbeständig und wirtschaftlich war. Im Operationssaal schützt grüne Kleidung die Augen der Chirurgen vor Nachbildern, während Armeen grüne Tarnkleidung einsetzen, um sich in die Vegetation zu schmiegen. Selbst Rotweinflaschen tragen grünes Glas, um ihren wertvollen Inhalt vor schädlichem Licht zu schützen. Die alte Welt wusste schon früh um die Macht des Grüns. In Ägypten galt Grün als Farbe der Regeneration und der Götterwelt, und Osiris wurde oft in Grün dargestellt, um Leben und Wiedergeburt zu symbolisieren. Die Römer verbanden Grün mit Venus, ihren Gärten und Weinbergen, und die Romantikbewegung im 18. und 19. Jahrhundert erhob Grün zur Farbe der Sehnsucht, Ruhe und Erholung. Goethe empfahl sogar grüne Schlafzimmerwände, um den Geist zu beruhigen. Im 20. Jahrhundert schließlich wurde Grün zum Symbol für Politik, Nachhaltigkeit und Umweltschutz, wo es die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft verkörpert.  Grün ist eine Farbe, die Geschichten erzählt, die Natur und Kultur verbindet, Leben und Tod, Schönheit und Gefahr in sich trägt. Es kann das Auge erfreuen, das Herz beruhigen, den Verstand warnen und gleichzeitig Träume inspirieren. Von den giftigen, funkelnden Kristallen des Schweinfurter Grüns über die sanften Blätter der Wälder bis hin zu den metallisch schimmernden Flügeln eines Kolibris – Grün ist überall. Es wächst, es gedeiht, es verzaubert. Wer genau hinsieht, entdeckt in jedem Ton, jedem Lichtspiel, jeder Nuance eine Geschichte, die so alt ist wie die Zivilisation selbst und doch immer wieder neu erzählt wird. Quellen: Die Farbe Grün in der Natur und Kunst | Adobe Express Grün – Wikipedia Die Geschichte des Schweinfurter Grün Schweinfurter Grün – Wikipedia 11_BBA_Bd11_1992_DieHerstellungundVerarbeitungvonSchweinfurterGruen_197-205.pdf
von Alexandra Abredat 14. November 2025
Ich bin Myrkviðr, die alte Waldgöttin, und ich kenne die Wälder, seit sie sich über die Landschaften Deutschlands ausbreiteten. Seit die ersten Eichen und Buchen die Erde durchwurzelten, habe ich jeden Ast, jedes Blatt und jeden Sonnenstrahl begleitet. Mein Haar ist wie flüssiges Moos, meine Augen funkeln wie Tautropfen im Morgenlicht, und wenn ich laufe, flüstert der Boden unter meinen Füßen Geschichten, die älter sind als jede Vorstellung von Zeit. Setzt euch, liebe Menschen, auf einen von Moos und Farn bewachsenen Baumstumpf, lehnt euch an eine knorrige Buche, und lasst mich euch erzählen, wie der deutsche Wald nicht nur wächst, sondern lebt, atmet, flüstert, singt – und manchmal sogar streitet – wie eine widerspenstige, uralte Göttin eben. Es begann lange vor eurer Vorstellung von Geschichte, in jenen Tagen, als meine Wälder ungestüm und wild waren, als Arminius und seine tapferen Cherusker zwischen meinen Kronen umherirrten und die Legionen Roms sich in den Schatten meiner Bäume verirrten. Ich erinnere mich noch gut an das Kichern der Eichhörnchen, als sie die Soldaten beobachteten, wie sie über Wege und Wurzeln stolpern mussten, und an das Flüstern der Buchen: „Heute werden Geschichten geschrieben, von denen die Menschen noch Jahrhunderte erzählen werden.“ Es war die Schlacht im Teutoburger Wald, und ich durfte ein Teil dieser ersten großen Legende des deutschen Waldes sein. Ich habe die Bäume ermutigt, besonders stolz ihre Äste zu strecken, damit die Soldaten sich verlaufen, und ich habe die Nebel geschickt, um das Chaos perfekt zu machen. Als die Jahrhunderte vergingen, kamen die Menschen mit Feder und Tinte, mit Pinsel und Harfe, um mich zu bewundern. Anfang des 19. Jahrhunderts begann die Romantik, meine Wälder zu verherrlichen. Dichter, Maler und Komponisten stapften durch meine Schatten, manchmal über die Füße der Rehe und Wildschweine, und verklärten die deutschen Wälder in Gedichten, Sagen und Musik, bis sie fast größer waren als die Realität selbst. Eichendorff flüsterte meinen Buchen ins Ohr und beschwor den Wald als Hallraum der Seele, und Wilhelm Grimm sammelte die Märchen, die in meinen Ecken und Lichtungen wie kleine Schätze verborgen lagen. Ich musste manchmal lachen, wenn die Menschen glaubten, dass sie mich „besitzen“ könnten, nur weil sie meine Geschichten schrieben. Ich bin der Wald – nicht die Feder, nicht das Papier, nicht die Noten auf einem Blatt. Und so wie ich über die Jahrhunderte wache, so lebe ich mit den Jahreszeiten. Ich höre das zarte Kichern der Knospen im Frühling, das freche Rascheln der Blätter im Sommer, das tiefgründige Flüstern der fallenden Blätter im Herbst und das stille, fast ehrfürchtige Atmen des Schnees im Winter. Jeder Tag bringt ein neues Abenteuer, jedes Tier, jeder Windhauch, jede Wolke erzählt mir etwas Neues. Ich beobachte die Pilze, wie sie wie kleine Schatztruhen aus dem Boden schießen, ich horche auf das Knacken von Ästen, wenn ein Reh neugierig um die Ecke lugt, und ich genieße das Konzert der Vögel, die morgens die ersten Sonnenstrahlen begrüßen. Manchmal lasse ich mich von einem Windstoß tragen, wirbele über Lichtungen und Flüsse, verstecke mich in Nebelschwaden und spiele Katz und Maus mit den Wanderern, die meinen Wald betreten. Ich bin Schalk, Hüterin, Geschichtenerzählerin – und immer bereit, euch ein bisschen zu necken, damit ihr aufmerksamer werdet, damit ihr bemerkt, wie lebendig meine Welt ist. Denn der Wald ist mehr als Bäume, Moose und Tiere. Er ist ein Spiegel eurer eigenen Seele, ein Ort, an dem Freude und Staunen aufeinandertreffen, ein Platz, an dem Geschichten geboren, bewahrt und weitergegeben werden. Wer in meine Schatten tritt, hört nicht nur das Knistern des Laubs unter den Füßen, sondern auch die leisen Antworten auf Fragen, die er vielleicht gar nicht zu stellen gewagt hat. Jeder Baum, jeder Strauch, jedes Blatt erzählt von Geduld, Widerstandskraft, von Witz und von der kleinen, feinen Magie, die das Leben lebenswert macht. Und so lautet mein Rat, liebe Menschen: Kommt, wandelt durch meine Wälder, staunt, lacht, staunt noch einmal, und nehmt euch Zeit. Hört auf das Flüstern der Bäume, lasst euch von den Sonnenstrahlen kitzeln, beobachtet die Tiere und fühlt, wie die Natur in jedem Moment pulsiert. Wer aufmerksam ist, erkennt: Meine Wälder sind ein lebendiges Gedicht, das niemals endet. Wenn ihr einmal fortgeht, bleibt ein Funken hier zurück – ein kleines Stück des Zaubers, den ich bewahre. Und jedes Mal, wenn ihr zurückkehrt, wartet schon das nächste Abenteuer zwischen Moos, Wurzeln und Kronen. So lebt der Wald, so lebt Myrkviðr, und so lebt die Geschichte weiter: mal schelmisch, mal geheimnisvoll, immer funkelnd, immer voller Leben. Und während die Sonne hinter den Baumwipfeln versinkt, wisst ihr: Es gibt noch so viel zu entdecken, so viele Geschichten, die euch erwarten, so viele Wunder, die nur darauf warten, gesehen zu werden. Die Zukunft meiner Wälder ist offen, bunt und lebendig – und sie lädt euch ein, Teil dieses Abenteuers zu sein. Wer sie achtet, wer sie liebt, wird nicht nur den Wald verstehen, sondern auch ein Stück von sich selbst finden, ein bisschen mehr Magie in den Alltag tragen und vielleicht sogar die eigene Geschichte ein wenig wilder, fröhlicher und leuchtender gestalten. Denn das, liebe Menschen, ist die große Wahrheit, die ich hüte: Meine Wälder sind ewig – und jeder, der bereit ist, sie zu sehen, kann ein Funken davon in sein Herz tragen, um ihn weiterzugeben, zu bewahren und mit ihm die Welt ein kleines Stückchen verzauberter zu machen. Quellen: Deutscher Wald – Wikipedia Landschaften: Der deutsche Wald - Deutscher Wald - Landschaften - Natur - Planet Wissen Mythen, Märchen und Zauberhaftes Mythologie des Waldes - proHolz Wo Götter und Geister wohnen - Goethe-Institut Estland Baumgeist – Wikipedia Bäume in der Mythologie: Versprechen der Unsterblichkeit » Waldfriedhof Eifel Waldlegenden: Von Trollen, Hexen und Gestaltwandlern - WWF Blog Myrkviðr – Wikipedia Wie aus Furcht Märchen wurden: Der deutsche Wald und seine Fabelwesen - National Geographic
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