Von Küsten zu Gipfeln: Die stille Migration der Pflanzen
Ausbreitung von Pflanzen im Klimawandel: Beobachtungen, Folgen und ökologische Zusammenhänge:
Die Veränderungen unseres Klimas sind mittlerweile unübersehbar. Warme Winter, früh einsetzende Frühlinge, längere Trockenperioden und immer häufiger auftretende Extremwetterereignisse prägen die Natur. Für Pflanzen, die im Gegensatz zu Tieren sessile Organismen sind, bedeutet dies enorme Herausforderungen. Sie können nicht kurzfristig ausweichen, sondern müssen auf die veränderten Bedingungen reagieren. Diese Reaktionen fallen unterschiedlich aus: Einige Arten passen sich durch Veränderungen ihres Wachstums, ihrer Blühzeit oder anderer phänologischer Eigenschaften an, andere versuchen, ihren Standort zu wechseln und neue Lebensräume zu besiedeln, und wieder andere können die Veränderungen nicht bewältigen und verschwinden nach und nach aus ihren bisherigen Arealen.
Die Geschwindigkeit des Klimawandels spielt dabei eine entscheidende Rolle. Phänotypische Anpassungen, wie etwa die vorgezogene Blüte des Scharbockskrauts (Ficaria verna, Ranunculaceae) oder der Buschwindröschen (Anemone nemorosa, Ranunculaceae), können innerhalb weniger Jahre sichtbar werden. Genetische Anpassungen hingegen erfordern viele Generationen, um wirksam zu werden. Historische Untersuchungen zeigen, dass Pflanzen in der Vergangenheit meist über Arealverschiebungen reagierten, weniger über genetische Anpassungen. Angesichts der heutigen Geschwindigkeit des Klimawandels ist dies ein deutliches Problem für viele Arten (Huntley, 1991; Metzing, 2016).
Die Verteilung von Pflanzen wird von zahlreichen Faktoren bestimmt. Klimatische Parameter wie Temperatur, Niederschlag und Luftfeuchtigkeit setzen großräumig die Grenzen, in denen eine Art überhaupt existieren kann. Auf kleinerer Skala beeinflussen Bodentyp, Wasserhaushalt, Konkurrenz durch andere Pflanzen und die Struktur der Vegetation, wie erfolgreich eine Art wachsen kann. Pflanzenarten mit kurzen Generationszeiten und effektiver Samenverbreitung sind im Vorteil. So breitet sich der Meerfenchel (Crithmum maritimum, Apiaceae) entlang der deutschen Nordseeküste relativ rasch aus, da seine Diasporen durch Meeresströmungen weit transportiert werden. Langsam wachsende Arten oder solche, deren Samen nur begrenzte Entfernungen überwinden, haben es deutlich schwerer, den Klimaveränderungen zu folgen (Metzing, 2005).
Die deutsche Küstenregion veranschaulicht besonders anschaulich, wie Pflanzen auf den Klimawandel reagieren. Hier finden sich zunehmend Arten, die zuvor nur weiter südlich verbreitet waren. Die Strandwolfsmilch (Euphorbia paralias, Euphorbiaceae), ursprünglich mediterran-atlantisch verbreitet, konnte erst vor wenigen Jahren an der schleswig-holsteinischen Küste nachgewiesen werden und breitet sich seither weiter aus. Auch das Moosblümchen (Crassula tillaea, Crassulaceae), eine Wärme liebende Art, die im 19. Jahrhundert im Niederrheingebiet und in Brandenburg vorkam und anschließend verschwand, ist heute wieder an der Nord- und Ostseeküste zu finden (Metzing et al., 2011). Solche Beobachtungen illustrieren den Begriff „fingerprints of climate change“: sichtbare Spuren des Klimawandels, die sich in der Natur abzeichnen (Parmesan & Yohe, 2003; Walther et al., 2001).
Die Küstenregion bietet ideale Bedingungen für die Fernausbreitung von Arten. Die lineare Anordnung der Habitate, westliche Windrichtungen und Meeresströmungen erleichtern die Wanderung entlang der Küste. Vögel tragen zusätzlich Diasporen über weite Strecken. Dies erklärt, warum sich Arten wie der Gelbe Hornmohn (Glaucium flavum, Papaveraceae) und der Meerfenchel relativ schnell ausbreiten können, während in stärker fragmentierten Landschaften, etwa der Kulturlandschaft oder in Städten, die Ausbreitung oft deutlich langsamer verläuft (Metzing, 2005; Eigner, 2014).
Hochgebirge zeigen ähnliche Prozesse, jedoch auf kleinerer räumlicher Skala. Durch die eng beieinanderliegenden Isothermen müssen Pflanzen nur kurze Distanzen zurücklegen, um mit dem Klimawandel Schritt zu halten. Studien zeigen, dass viele Arten in den Alpen ihre Höhenverbreitung im Mittel um etwa 34 Meter pro Dekade nach oben verschieben. Die Zirbelkiefer (Pinus cembra, Pinaceae), der Fransenenzian (Gentianopsis ciliata, Gentianaceae), Himbeeren (Rubus idaeus, Rosaceae) und der Zerbrechliche Blasenfarn (Cystopteris fragilis, Woodsiaceae) haben in den vergangenen Jahrzehnten neue Höhenlagen besiedelt (Pauli et al., 2012; Burga et al., 2004). Besonders deutlich wird dies auf freigelegten Gletschervorfeldern: Nach dem Rückzug der Gletscher besiedeln Pionierarten wie der Gletscher-Hahnenfuß (Ranunculus glacialis, Ranunculaceae) sofort die frisch freigelegten Böden, während andere Arten wie die Kraut-Weide (Salix herbacea, Salicaceae) oder die Ähren-Hainsime (Luzula spicata, Juncaceae) Jahrzehnte benötigen, um Fuß zu fassen (Cannone et al., 2008).
In Kulturlandschaften wirkt sich der Klimawandel oft in Kombination mit menschlichen Einflüssen aus. Die Stechpalme (Ilex aquifolium, Aquifoliaceae) breitet sich nördlich und nordöstlich aus, nicht nur aufgrund steigender Temperaturen, sondern auch durch Pflanzungen in Gärten und Parks. Auch die Walnuss (Juglans regia, Juglandaceae) zeigt eine ähnliche Dynamik. Beide Arten profitieren von menschlicher Unterstützung, da verwilderte Exemplare neue Areale schneller besiedeln können, als es durch natürliche Ausbreitung allein möglich wäre (Walther et al., 2005; Loacker et al., 2007; Svenning et al., 2014).
Wärmeliebende Unkräuter auf Maisäckern wie verschiedene Amarant-Arten (Amaranthus spp., Amaranthaceae) und Hirsen (Digitaria spp., Echinochloa spp., Panicum spp., Setaria spp., Sorghum spp., Poaceae) zeigen ebenfalls eine deutliche Nordverschiebung. Als C4-Arten profitieren sie von höheren Temperaturen bei starker Sonneneinstrahlung und gelten als Wärmezeiger. Ihre Ausbreitung wird nicht allein vom Klima, sondern auch von der intensiven Bewirtschaftung und der Verbreitung über landwirtschaftliche Maschinen begünstigt (Peters et al., 2014).
Neophyten reagieren besonders sensibel auf die neuen klimatischen Bedingungen. Arten wie die Hanfpalme (Trachycarpus fortunei, Arecaceae), die Lorbeer-Kirsche (Prunus laurocerasus, Rosaceae) und der Schmetterlingsflieder (Buddleja davidii, Scrophulariaceae) finden zunehmend geeignete Lebensräume in Deutschland. Ihr Ausbreitungsprozess verläuft in mehreren Stufen: Einschleppung, Verwilderung, Etablierung und schließlich Ausdehnung. Der Klimawandel beschleunigt diese Entwicklung, indem er neue Habitate eröffnet und die Konkurrenzbedingungen verändert (Berger & Walther, 2006; Lübbert et al., 2008; Metzing, 2015).
Die Reaktionen der Pflanzen auf den Klimawandel sind also sehr unterschiedlich. Während Hochgebirgsarten zunächst von der Möglichkeit profitieren, Höhenstufen zu verschieben, haben Arten in Ebenen oft größere Schwierigkeiten, geeignete Lebensräume zu erreichen. Die menschlich geprägten Kulturlandschaften erschweren die Beobachtung und das Verständnis dieser Prozesse, da sie sowohl Hemmnisse als auch Beschleuniger für die Arealverschiebung darstellen. Invasive Arten profitieren in vielen Fällen, während heimische Arten zunehmend unter Druck geraten. Studien zeigen, dass die Arealwanderung den Verlust an Biodiversität in den meisten Fällen nur unzureichend ausgleichen kann (Field et al., 2014).
Aus Sicht einer Pflanzenliebhaberin und Naturschützerin ist es faszinierend zu beobachten, wie Pflanzen im Stillen auf die Veränderungen reagieren. Jede Art erzählt ihre eigene Geschichte von Anpassung, Widerstandskraft und Fragilität. Die Beobachtung dieser Prozesse in Feld, Garten und Naturreservaten eröffnet nicht nur Einblicke in die Dynamik der Ökosysteme, sondern macht auch deutlich, wie wichtig es ist, Lebensräume zu schützen, zu beobachten und zu verstehen. Nur wer die Signale der Pflanzen genau wahrnimmt, kann ihre Bedürfnisse erkennen und langfristig zur Erhaltung der Biodiversität beitragen.
Die wissenschaftlichen Grundlagen dafür sind umfangreich dokumentiert. Studien aus Küstenregionen, Hochgebirgen und Kulturlandschaften zeigen die vielfältigen Reaktionen der Pflanzen, von Arealverschiebungen über phänotypische Anpassungen bis hin zu Aussterbeprozessen. Modelle wie die „climate envelope“-Ansätze erlauben, aus Verbreitungsdaten und Klimainformationen Prognosen über mögliche zukünftige Arealverschiebungen zu erstellen. Diese Prognosen stimmen häufig mit beobachteten Veränderungen überein und können als Indikatorarten für den Klimawandel genutzt werden (Foden et al., 2013; Pearson & Dawson, 2003).
Insgesamt ergibt sich ein Bild, das gleichermaßen alarmierend wie lehrreich ist: Der Klimawandel hinterlässt seine Spuren in der Pflanzenwelt, und diese Spuren können gelesen werden. Sie zeigen, dass Biodiversität verletzlich ist, dass Ökosysteme dynamisch reagieren und dass menschliches Handeln einen entscheidenden Einfluss auf die Geschwindigkeit und Richtung dieser Veränderungen hat. Gleichzeitig bieten sie die Chance, die Zusammenhänge zwischen Klima, Vegetation und menschlicher Aktivität zu verstehen, um künftig besser zu schützen, zu fördern und die Vielfalt der Pflanzenwelt zu erhalten.
Literatur + Quellen
- Berger, S. & Walther, G.-R. (2006): Distribution of evergreen broad-leaved woody species in Insubria in relation to bedrock and precipitation. Botanica Helvetica 116: 65-77.
- Burga, C. A., Walther, G.-R. & Beissner, S. (2004): Florenwandel in der alpinen Stufe des Berninagebiets – ein Klimasignal? Berichte der Reinhold-Tüxen-Gesellschaft 16: 57-66.
- Cannone, N., Diolaiuti, G., Guglielmin, M. & Smiraglia, C. (2008): Accelerating climate change impacts on alpine glacier forefield ecosystems in the European Alps. Ecological Applications 18: 637–648.
- Eigner, J. (2014): Der Meerfenchel (Crithmum maritimum) auf Pellworm. Kieler Notizen zur Pflanzenkunde 40: 53-55.
- Ellenberg, H. (1992): Zeigerwerte der Gefäßpflanzen (ohne Rubus). 2. Auflage, Scripta Geobotanica 18: 9-166.
- Field, C. B., Barros, V. R., Dokken, D. J., Mach, K. J. et al. (2014): Climate Change 2014: Impacts, adaptation, and vulnerability. Cambridge University Press.
- Foden, W. B., Butchart, S. H. M., Stuart, S. N., Vié, J.-C. et al. (2013): Identifying the world’s most climate change vulnerable species: a systematic trait-based assessment of all birds, amphibians and corals. PLoS ONE 8(6): e65427.
- Haacks, M., Janinhoff, N., Petersen, J., Stock, M. et al. (2016): Floristische Besonderheiten der Nordseeküstendünen Schleswig-Holsteins 2012-2014. Kieler Notizen zur Pflanzenkunde 41: 105-123.
- Huntley, B. (1991): How plants respond to climate change: migration rates, individualism and the consequences for plant communities. Annals of Botany 67: 15-22.
- Loacker, K., Kofler, W., Pagitz, K. & Oberhuber, W. (2007): Spread of walnut (Juglans regia L.) in an Alpine valley is correlated with climate warming. Flora 202: 70-78.
- Metzing, D. (2005): Küstenflora und Klimawandel – der Einfluss der globalen Erwärmung auf die Gefäßpflanzenflora des deutschen Küstengebietes von Nord- und Ostsee. Dissertation Universität Oldenburg.
- Metzing, D. (2015): Invasive Pflanzenarten in Deutschland. In: Lozán, J. L., Grassl, H., Karbe, L. & Jendritzky, G. (Hrsg.): Warnsignal Klima: Gefahren für Pflanzen, Tiere & Menschen.
- Metzing, D., Kuhbier, H. & Küver, B. (2011): Crassula tillaea (Crassulaceae) auf Baltrum – Erstnachweis für Niedersachsen. Drosera 2010: 71-76.
- Pauli, H., Gottfried, M., Dullinger, S., Abdaladze, O. et al. (2012): Recent plant diversity changes on Europe’s mountain summits. Science 336: 353-355.
- Parmesan, C. & Yohe, G. (2003): A globally coherent fingerprint of climate change impacts across natural systems. Nature 421: 37-42.
- Peters, K., Breitsameter, L. & Gerowitt, B. (2014): Impact of climate change on weeds in agriculture: a review. Agronomy for Sustainable Development 27: 13-18.
- Walther, G.-R., Burga, C. A. & Edwards, P. J. (eds.) (2001): Fingerprints of Climate Change. Kluwer Academic/Plenum Publ., New York.
- Walther, G.-R., Berger, S. & Sykes, M. T. (2005): An ecological ‘footprint’ of climate change. Proceedings of the Royal Society B 272: 1427-1432.
- Migration (Biologie) – Wikipedia
- Neobiota – Wikipedia
- Neophyten: Gefährliche Pflanzen? - Mein schöner Garten
- Pflanzen auf der Flucht :: Pflanzenforschung.de
- Thuenen: Nur „unterstützte Migration“ von Bäumen erhält Klimaschutzfunktion europäischer Wälder
- warnsignal_klima-die_biodiversitaet-kapitel-3_9.pdf
- Wie Pflanzen die Welt erobern
- Neophyten - Pflanzliche Migration - Forst erklärt











