Im Reich von Myrkviðr: Wo Buchen sprechen und Moos Geschichten flüstert
Ich bin Myrkviðr, die alte Waldgöttin, und ich kenne die Wälder, seit sie sich über die Landschaften Deutschlands ausbreiteten. Seit die ersten Eichen und Buchen die Erde durchwurzelten, habe ich jeden Ast, jedes Blatt und jeden Sonnenstrahl begleitet. Mein Haar ist wie flüssiges Moos, meine Augen funkeln wie Tautropfen im Morgenlicht, und wenn ich laufe, flüstert der Boden unter meinen Füßen Geschichten, die älter sind als jede Vorstellung von Zeit. Setzt euch, liebe Menschen, auf einen von Moos und Farn bewachsenen Baumstumpf, lehnt euch an eine knorrige Buche, und lasst mich euch erzählen, wie der deutsche Wald nicht nur wächst, sondern lebt, atmet, flüstert, singt – und manchmal sogar streitet – wie eine widerspenstige, uralte Göttin eben.
Es begann lange vor eurer Vorstellung von Geschichte, in jenen Tagen, als meine Wälder ungestüm und wild waren, als Arminius und seine tapferen Cherusker zwischen meinen Kronen umherirrten und die Legionen Roms sich in den Schatten meiner Bäume verirrten. Ich erinnere mich noch gut an das Kichern der Eichhörnchen, als sie die Soldaten beobachteten, wie sie über Wege und Wurzeln stolpern mussten, und an das Flüstern der Buchen: „Heute werden Geschichten geschrieben, von denen die Menschen noch Jahrhunderte erzählen werden.“ Es war die Schlacht im Teutoburger Wald, und ich durfte ein Teil dieser ersten großen Legende des deutschen Waldes sein. Ich habe die Bäume ermutigt, besonders stolz ihre Äste zu strecken, damit die Soldaten sich verlaufen, und ich habe die Nebel geschickt, um das Chaos perfekt zu machen.
Als die Jahrhunderte vergingen, kamen die Menschen mit Feder und Tinte, mit Pinsel und Harfe, um mich zu bewundern. Anfang des 19. Jahrhunderts begann die Romantik, meine Wälder zu verherrlichen. Dichter, Maler und Komponisten stapften durch meine Schatten, manchmal über die Füße der Rehe und Wildschweine, und verklärten die deutschen Wälder in Gedichten, Sagen und Musik, bis sie fast größer waren als die Realität selbst. Eichendorff flüsterte meinen Buchen ins Ohr und beschwor den Wald als Hallraum der Seele, und Wilhelm Grimm sammelte die Märchen, die in meinen Ecken und Lichtungen wie kleine Schätze verborgen lagen. Ich musste manchmal lachen, wenn die Menschen glaubten, dass sie mich „besitzen“ könnten, nur weil sie meine Geschichten schrieben. Ich bin der Wald – nicht die Feder, nicht das Papier, nicht die Noten auf einem Blatt.
Und so wie ich über die Jahrhunderte wache, so lebe ich mit den Jahreszeiten. Ich höre das zarte Kichern der Knospen im Frühling, das freche Rascheln der Blätter im Sommer, das tiefgründige Flüstern der fallenden Blätter im Herbst und das stille, fast ehrfürchtige Atmen des Schnees im Winter. Jeder Tag bringt ein neues Abenteuer, jedes Tier, jeder Windhauch, jede Wolke erzählt mir etwas Neues. Ich beobachte die Pilze, wie sie wie kleine Schatztruhen aus dem Boden schießen, ich horche auf das Knacken von Ästen, wenn ein Reh neugierig um die Ecke lugt, und ich genieße das Konzert der Vögel, die morgens die ersten Sonnenstrahlen begrüßen.
Manchmal lasse ich mich von einem Windstoß tragen, wirbele über Lichtungen und Flüsse, verstecke mich in Nebelschwaden und spiele Katz und Maus mit den Wanderern, die meinen Wald betreten. Ich bin Schalk, Hüterin, Geschichtenerzählerin – und immer bereit, euch ein bisschen zu necken, damit ihr aufmerksamer werdet, damit ihr bemerkt, wie lebendig meine Welt ist.
Denn der Wald ist mehr als Bäume, Moose und Tiere. Er ist ein Spiegel eurer eigenen Seele, ein Ort, an dem Freude und Staunen aufeinandertreffen, ein Platz, an dem Geschichten geboren, bewahrt und weitergegeben werden. Wer in meine Schatten tritt, hört nicht nur das Knistern des Laubs unter den Füßen, sondern auch die leisen Antworten auf Fragen, die er vielleicht gar nicht zu stellen gewagt hat. Jeder Baum, jeder Strauch, jedes Blatt erzählt von Geduld, Widerstandskraft, von Witz und von der kleinen, feinen Magie, die das Leben lebenswert macht.
Und so lautet mein Rat, liebe Menschen: Kommt, wandelt durch meine Wälder, staunt, lacht, staunt noch einmal, und nehmt euch Zeit. Hört auf das Flüstern der Bäume, lasst euch von den Sonnenstrahlen kitzeln, beobachtet die Tiere und fühlt, wie die Natur in jedem Moment pulsiert. Wer aufmerksam ist, erkennt: Meine Wälder sind ein lebendiges Gedicht, das niemals endet.
Wenn ihr einmal fortgeht, bleibt ein Funken hier zurück – ein kleines Stück des Zaubers, den ich bewahre. Und jedes Mal, wenn ihr zurückkehrt, wartet schon das nächste Abenteuer zwischen Moos, Wurzeln und Kronen. So lebt der Wald, so lebt Myrkviðr, und so lebt die Geschichte weiter: mal schelmisch, mal geheimnisvoll, immer funkelnd, immer voller Leben.
Und während die Sonne hinter den Baumwipfeln versinkt, wisst ihr: Es gibt noch so viel zu entdecken, so viele Geschichten, die euch erwarten, so viele Wunder, die nur darauf warten, gesehen zu werden. Die Zukunft meiner Wälder ist offen, bunt und lebendig – und sie lädt euch ein, Teil dieses Abenteuers zu sein. Wer sie achtet, wer sie liebt, wird nicht nur den Wald verstehen, sondern auch ein Stück von sich selbst finden, ein bisschen mehr Magie in den Alltag tragen und vielleicht sogar die eigene Geschichte ein wenig wilder, fröhlicher und leuchtender gestalten.
Denn das, liebe Menschen, ist die große Wahrheit, die ich hüte: Meine Wälder sind ewig – und jeder, der bereit ist, sie zu sehen, kann ein Funken davon in sein Herz tragen, um ihn weiterzugeben, zu bewahren und mit ihm die Welt ein kleines Stückchen verzauberter zu machen.
Quellen:
Landschaften: Der deutsche Wald - Deutscher Wald - Landschaften - Natur - Planet Wissen
Mythen, Märchen und Zauberhaftes
Mythologie des Waldes - proHolz
Wo Götter und Geister wohnen - Goethe-Institut Estland
Bäume in der Mythologie: Versprechen der Unsterblichkeit » Waldfriedhof Eifel
Waldlegenden: Von Trollen, Hexen und Gestaltwandlern - WWF Blog
Wie aus Furcht Märchen wurden: Der deutsche Wald und seine Fabelwesen - National Geographic











