von Alexandra Abredat
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13. November 2025
Ein Igel lernt im Winterwald, seine Gedanken zu ordnen – begleitet von einem weisen Uhu, der mehr über das Herz der Nacht weiß, als man ahnt. Die Nacht hatte den Wald wie einen glitzernden Samtmantel umhüllt. Frost bedeckte die Äste der Bäume, funkelte auf jedem Halm und spiegelte das silbrige Licht des Mondes wider. Überall knackte und knirschte der Schnee unter den vorsichtigen Schritten der Waldbewohner. Der Winterwald war still, und doch schien jedes Geräusch, jeder Atemzug, eine Geschichte zu erzählen. Hans, der kleine Igel, hatte sich unter seinem Lieblingsbusch zusammengerollt, das Laub wie eine schützende Decke um sich geschichtet. Die vergangenen Monate zogen vor seinem inneren Auge vorbei: neue Freundschaften, kleine Abenteuer, Stolpersteine und Erfolge. Ein Seufzer entwich ihm. „Vielleicht sollte ich wirklich mal darüber nachdenken, was das letzte Jahr gebracht hat…“, murmelte er leise. Da durchbrach ein dumpfes, tiefes „buho“ die Stille. Es schwang durch die Baumwipfel und ließ Hans’ Herz einen Schlag schneller schlagen. Kaum eine Minute später ertönte ein helles „u-hu“. Die Stimmen antworteten sich, wie in einem geheimen Spiel zwischen den Bäumen. Hans wusste sofort, wer das war: Eiran, der Uhu. Eiran landete auf einem Ast über Hans, seine Krallen kaum hörbar im Frost. Mit den orange-goldenen Augen, den breiten Flügeln und seinem lautlosen Flug strahlte er Ruhe und Weisheit aus. „Keine Sorge, Hans“, sagte er leise, „ich bin nicht hier, um dich zu erschrecken, sondern um dir zuzuhören und dir zu helfen, deine Gedanken zu ordnen.“ Hans blinzelte. „Meine Gedanken… ordnen? Aber wie?“ „Indem du deine Gedanken bewusst beobachtest“, begann Eiran, während sein Blick durch die funkelnden Baumwipfel wanderte. „Viele geraten in ein Gedankenkarussell. Grübeln über Vergangenes, Sorgen über die Zukunft – diese Spirale erzeugt Reizbarkeit, Traurigkeit, manchmal sogar Wut. Der Winter, die Stille, die klare Luft – all das kann dir helfen, einen Schritt zurückzutreten. Die Natur zwingt dich, innezuhalten.“ Hans hörte aufmerksam zu. „Wie… fange ich an?“ „Schau dir zuerst an, was war“, erklärte Eiran. „Der Jahreswechsel ist ideal für Reflexion: Was hast du gelernt? Welche Hobbys sind entstanden? Welche Freundschaften hast du gepflegt? Welche alten Gewohnheiten hast du abgelegt? Schreibe diese Gedanken in deinem Kopf auf, so wie du Blätter im Herbst sammelst. Betrachte sie kritisch, aber liebevoll. Selbstreflexion bedeutet, sich ehrlich zu beobachten – die Stärken, die Schwächen, die Reaktionen auf bestimmte Situationen.“ Hans nickte, während seine kleine Nase die frostige Luft sog. Er fühlte, wie das Gedankenkarussell langsamer wurde. Die Klarheit des Mondlichts, das sanfte Knirschen des Schnees unter den Ästen, die Kälte, die seine Pfoten wachrüttelte – alles wirkte wie ein unsichtbarer Lehrer. Eiran breitete seine Flügel ein wenig und erzählte weiter: „Sieh, Hans, ich rufe ‚buho‘, das Weibchen antwortet ‚u-hu‘. In der Balzzeit, von September bis November, sind wir beide oft im Duett zu hören, besonders wenn wir ein neues Revier markieren oder einen Partner suchen. Männchen rufen oft ausdauernd, selbst bis Juni, wenn sie noch allein sind. Diese Rufe haben einen Zweck – sie zeigen Präsenz, sie bringen Ordnung ins Chaos des Waldes. So wie du deine Gedanken ordnest. Jeder Ruf hat eine Wirkung, jede Beobachtung eine Bedeutung.“ Hans schmunzelte. „Also ist Selbstreflexion wie ein Uhu-Ruf?“ „Genau“, antwortete Eiran, ein leises „hohohoho“ zwischen den Worten. „Du rufst in dich hinein, hörst auf deine innere Stimme, wartest auf die Antwort, erkennst, was Bestand hat und was vergeht. Grübeleien sind wie einzelne, verlorene Rufe ohne Antwort – sie bringen dich nicht weiter.“ Die Nacht war still geworden, nur der Atem des Waldes war zu hören. Hans fühlte, wie sich in ihm etwas löste, wie eine kleine Last von seinen Schultern fiel. „Ich verstehe jetzt“, sagte er. „Ich kann meine Gedanken betrachten, erkennen, was mir guttut, und mich von dem befreien, was mich belastet.“ Eiran nickte zufrieden. „Und denk daran: Ehrlichkeit zu sich selbst, Ausgewogenheit und Kontinuität – das sind die Schlüssel. Nimm dir jeden Abend ein paar Minuten, um über den Tag nachzudenken. Es ist wie der Flug eines Uhus durch den Winterwald: ruhig, bewusst und zielgerichtet.“ Hans lächelte. „Danke, Eiran. Ich glaube, ich kann es versuchen.“ Der Uhu breitete seine Flügel und stieg lautlos in die Nacht. Hans blickte ihm nach, während der Winterwald um ihn herum funkelte. Die Gedanken waren noch da, aber sie kreisten nicht mehr ziellos. In der Stille des Frostes hatte Hans seine innere Stimme gefunden – und mit ihr eine Ruhe, die nur die Weisheit der Nacht schenken konnte. Der Fuchs und das Gold in den Rissen – Wabi Sabi im Winterwald Die Nacht war klar und still, als Hans und Eiran weiterzogen. Der Schnee glitzerte in weichem Mondlicht, und ihr Atem stieg als kleine Nebelwölkchen in die kalte Luft. Hans stapfte tapfer durch den Schnee, während Eiran lautlos über ihm schwebte. Sie waren ein ungleiches Paar – der kleine, nachdenkliche Igel und der weise Uhu –, und doch verband sie etwas Unsichtbares: die Sehnsucht nach Verständnis. „Eiran“, begann Hans nach einer Weile, „glaubst du, ich kann das überhaupt? Meine Gedanken ordnen, meine Fehler akzeptieren?“ Eiran glitt eine Runde tiefer, die Flügel kaum hörbar. „Fehler sind wie Spuren im Schnee, Hans. Ohne sie wüsstest du gar nicht, wo du herkommst.“ Da knackte es im Unterholz. Eine schlanke, rotgoldene Gestalt trat aus den Schatten. Der Fuchs. Sein Fell schimmerte im Mondlicht, an einer Stelle leicht verfilzt, an einer anderen voller Glanz – wie das Leben selbst: nicht perfekt, aber schön. „Na, wen haben wir denn da?“, sagte Herr Fuchs mit seiner warmen, etwas spöttischen Stimme. „Den Denker und den Wächter der Nacht. Ihr seht aus, als wärt ihr auf einer wichtigen Mission.“ Hans nickte vorsichtig. „Ich versuche gerade, meine Gedanken zu sortieren und… na ja… mich selbst besser zu verstehen.“ „Ah!“ Der Fuchs lächelte breit, setzte sich und wickelte den buschigen Schwanz um sich. „Dann bist du genau auf dem richtigen Weg. Weißt du, Hans, Perfektion ist überbewertet. Ich persönlich halte’s mit Wabi Sabi.“ „Wabi… was?“ Hans zog die Stirn kraus. „Wabi Sabi“, wiederholte der Fuchs langsam, als koste er jedes Wort aus. „Das ist die Kunst, die Schönheit im Unvollkommenen zu sehen. Der Riss in einer Schale, das verfilzte Stück Fell, der Zahn, der nicht mehr ganz scharf ist – das alles erzählt eine Geschichte. Und Geschichten sind doch viel interessanter als Perfektion, oder?“ Eiran nickte ernst. „Er spricht wahr. Auch im Universum ist nichts vollkommen – Brüche und Unregelmäßigkeiten sind es, die Leben möglich machen.“ „Ganz genau!“, sagte Herr Fuchs und klopfte mit der Pfote auf den Boden, wo der Schnee unregelmäßig verteilt war. „Schau dir das an, Hans: Kein Schneekristall gleicht dem anderen, und doch ergibt alles zusammen diesen wunderbaren Teppich. Wabi Sabi bedeutet, das zu lieben, was ist – nicht, was du glaubst, es müsste sein.“ Hans sah auf seine kleinen Pfoten, in denen Schnee klebte. „Also ist es okay, wenn ich Fehler mache?“ „Nicht nur okay“, sagte der Fuchs und lächelte. „Es ist notwendig. Ohne sie wärst du glatt und leer wie ein Spiegel ohne Bild. Jeder Kratzer, jede Spur erzählt von Bewegung, Wachstum, Leben.“ Eiran breitete langsam die Flügel. „So wie die Keramiker in Japan ihre zerbrochenen Schalen mit Gold reparieren – Kintsugi. Die Risse werden nicht versteckt, sondern hervorgehoben. Das Gold zeigt: Hier ist etwas zerbrochen – und neu geworden.“ „Oh“, machte Hans leise. „Dann bin ich also… eine Goldschale?“ Der Fuchs lachte leise. „Aber natürlich, mein kleiner Freund. Vielleicht nicht aus Porzellan – aber aus Herz.“ Sie schwiegen eine Weile. Nur das Knirschen des Schnees und das ferne Rauschen des Windes waren zu hören. Dann hob der Fuchs wieder an, seine Stimme sanft und klar: „Weißt du, Hans, Wabi Sabi ist nicht nur eine Idee. Es ist eine Haltung. Wenn du lernst, das Verwelkte, das Unfertige und das Vergängliche zu schätzen, dann beginnst du, wahrhaft zu leben. Nicht im ‚Wenn-dann‘, sondern im ‚Jetzt‘.“ Hans sah zum Himmel, wo der Mond zwischen den Ästen hing wie eine alte, verbeulte Laterne – und doch wunderschön leuchtete. „Ich glaube, ich verstehe langsam“, flüsterte er. „Dann hast du den schwersten Teil schon geschafft“, sagte der Fuchs und erhob sich. „Denn wer das Unvollkommene umarmt, der hört endlich auf, sich selbst zu bekämpfen.“ Eiran nickte zustimmend. „Der Winter ist gnädig mit denen, die loslassen können. Selbst das Moos unter dem Schnee weiß, dass Schönheit keine Frage der Jahreszeit ist.“ Hans lächelte. Zum ersten Mal fühlte er nicht das Bedürfnis, etwas zu ändern. Nur da zu sein, inmitten von Frost, Licht und leiser Weisheit. Der Fuchs verschwand zwischen den Bäumen, lautlos wie ein Gedanke, der sich gesetzt hat. Und über dem stillen Winterwald hallte ein sanftes „u-hu“ – wie ein Siegel auf der Erkenntnis des Abends. 🪶 Coaching-Impulse aus dem Winterwald 🌙 Gedankenkarussell stoppen Manchmal dreht sich der eigene Geist wie ein kleiner Wirbelsturm: Gedanken kommen und gehen, kreisen immer wieder um dieselben Sorgen oder alten Geschichten. Im Winterwald kann man etwas anderes üben: Beobachten statt kämpfen. Schau auf deine Gedanken wie auf Spuren im Schnee. Jede Spur erzählt, wo du gewesen bist – die Stolpersteine, die kleinen Umwege, die Freude und die Sorge. Sie sind da, aber sie bestimmen nicht die Richtung, in die du jetzt gehst. Wie Eiran, der Uhu, es sagt: „Sei der Beobachter deines eigenen Geistes.“ Du musst nicht jedes Gedankenfeuer löschen, nicht jedes Grübeln sofort lösen. Lass sie vorbeiziehen, wie Nebel über dem verschneiten Moos. Atme tief ein, spüre den frostigen Winterwind, und erkenne: Gedanken sind wie Schneeflocken. Manche bleiben liegen, manche schmelzen sofort. Kein Gedanke ist für immer, kein Gedanke definiert dich. Wenn du dein Gedankenkarussell stoppst, öffnet sich Raum für Klarheit und Ruhe. Du erkennst Muster, ohne von ihnen gefangen zu werden, und findest die Momente, in denen du bewusst handeln oder einfach nur sein kannst. 🍂 Wabi Sabi leben Perfektion ist eine Illusion. Sie existiert nur als Vorstellung, als Druck, den wir uns selbst auferlegen. Der Winterwald zeigt es uns: Kein Ast ist exakt symmetrisch, kein Frostkristall identisch mit dem anderen, jede Schneeschicht unregelmäßig. Alles hat Spuren, Brüche, kleine Makel – und genau darin liegt die Schönheit. Wabi Sabi lehrt, diese Unvollkommenheit nicht nur zu akzeptieren, sondern zu lieben. Die Risse im Eis, die Schrammen am alten Baum, das verfilzte Fell des Fuchses – sie erzählen Geschichten, sie zeigen Leben und Erfahrung. In unseren eigenen Rissen, unseren Fehlern und Pausen steckt dasselbe Gold. Sie sind die Orte, an denen wir wachsen, lernen und uns wirklich begegnen. Wenn du Wabi Sabi praktizierst, übst du dich darin, loszulassen: loszulassen vom Perfektionsdruck, von der Illusion, alles im Griff haben zu müssen. Du siehst das Schöne im Unfertigen, im Vergänglichen, im Unregelmäßigen. Du erkennst, dass gerade das, was du als Makel empfindest, dein Leben einzigartig macht – wie die goldenen Kintsugi-Linien in einer reparierten Keramikschale. Die Philosophie von Wabi Sabi lässt uns entschleunigen. Sie lädt dich ein, dein Leben nicht als Wettlauf gegen die Zeit zu sehen, sondern als Spaziergang durch den Winterwald: mal still, mal atemlos, immer echt, immer lebendig. Du lernst, dass Echtheit wertvoller ist als Glanz, dass das Verwelkte und Vergängliche voller Bedeutung steckt und dass jeder Riss in deinem Leben etwas Gold in sich trägt, wenn du nur bereit bist, es zu erkennen.