Das rasende Herbsthörnchen – Ein Märchen vom Müssen, Können und Loslassen
Der Wald in Flammen
Es war die Zeit, in der der Wald zu brennen schien, ohne dass ein Feuer wütete. Die Buchen standen in tiefem Bernstein, die Eichen glühten in warmem Gold, und die Ahornblätter leuchteten in Purpur wie kleine, flüssige Sonnen. Vereinzelt glänzten die ersten Birkenblätter silbrig im Morgenlicht, während das Moos zwischen den Wurzeln wie Samt über den Waldboden floss. Pilze ragten wie winzige Regenschirme aus dem Laub, Tauperlen funkelten wie kleine Kristalle, und die ersten Nebelschwaden schwebten wie geheimnisvolle Schleier zwischen den Stämmen.
In diesem Wald lebte Sciurus, ein Eichhörnchen, bekannt für seinen hochgestellten, buschigen Schwanz, der wie eine kleine Fichte im Wind wippte. Aber heute wippte Sciurus nicht vor Freude – sein Herz hämmerte wie Bucheckern, die aus dem Geäst purzelten.
„Nüsse! Haselnüsse! Bucheckern! Winter! Ich muss alles finden, bevor der Schnee kommt!“, rief Sciurus und sprang von Ast zu Ast, als hätte er Flügel, die ihn in alle Richtungen gleichzeitig ziehen wollten.
Sein kleiner Körper bebte, die Muskeln waren hart wie Kastanienschalen, und manchmal blieb ihm sogar die Luft weg, als würde er versuchen, den ganzen Wald in seinen Lungen zu speichern. Alles schien ihm zu schnell zu gehen. Alles. Immer. Und am meisten er selbst.
Ein Herbsttag voller Alarm
Sciurus raste durch den Wald. Unter ihm raschelten die Blätter in Gold, Orange, Rot und Bronze – Eichenblätter wie kleine Löffel, Buchenblätter glatt und glänzend, Ahornblätter sternförmig und feurig. Über ihm knarrten die Astgabeln, eine Krähe krächzte, und der Specht klopfte rhythmisch gegen eine alte Eiche.
Die Nahrung war überall verstreut: Haselnüsse versteckt in Moospolstern, Bucheckern unter Laubhaufen, vereinzelte Eicheln in Asthöhlen. Sciurus vergrub sie hastig, doch oft vergaß er, wo er sie gelassen hatte.
Plötzlich stieß er frontal gegen Herrn Fuchs, der gerade geschmeidig durch das Unterholz schlich. Sein rotgoldenes Fell glänzte in der Nachmittagssonne, die Augen funkelten verschmitzt.
„Au! Bei allen Brombeerbüschen!“, knurrte Herr Fuchs. „Kannst du mal aufpassen, du flitzender Nussball?“
„Ich… ich… Winter! Vorräte! Gefahr!“, quietschte Sciurus, schnappte nach den Eicheln und schoss weiter.
Kaum hatte er sich wieder in die Höhe katapultiert, stolperte er beinahe über Hans, den Igel, der sich gemütlich an einem Apfelstück labte. Hans war ein schlauer, introvertierter Geselle, der seine Zeit lieber in Ruhe und Nachdenken als in hastigen Aktionen verbrachte.
„Mein lieber Sciurus!“, seufzte Hans. „Wenn du so weitermachst, rennst du noch in jeden Baum des Waldes gleichzeitig! Langsam, kleiner Freund. Atme. Sammle. Überlege.“
Doch Sciurus hörte nicht. Sein Herz hämmerte, seine Atemzüge waren kurz, die Pfoten zitterten.
„Und hör auf, in meiner Nähe zu hüpfen!“, kreischte Robin Rubecula, das Rotkehlchen, vom Ast über ihnen. Sein Brustgefieder leuchtete wie flüssiges Feuer. Schon sein Alarmruf „Schnickern!“ brachte alle Waldbewohner in Schach, wenn Gefahr drohte.
„Ziih!“, rief Robin, als Sciurus beinahe auf seinen Lieblingsast krachte. „Trietsch! Pass auf, du kleiner Flitzer!“
Robin Rubecula war der Überbringer der Sonne im Wald, ein Träger des Feuers und Schutzpatron der Licht- und Wärmelegenden. Wer ihn störte, konnte Unheil bringen; wer ihm zuhörte, erhielt Frieden und Schutz.
„Ich… ich will nur… Vorräte!“, japste Sciurus.
„Vorräte, ja“, piepste Robin, „aber du zitterst wie ein Blatt im Sturm! Ziib!“
Die Lawine aus Stress
Sciurus rannte weiter, doch die Angst stieg in ihm wie ein Sturm. Herzrasen, Muskelverspannungen, Kopfschmerzen, Kurzatmigkeit – jeder Ast, jede Nuss, jeder Schatten war wie eine neue Gefahr. Der Puls schoss hoch, seine Pfoten zitterten, die Augen wurden groß.
„Langsamer, Sciurus!“, rief Hans und rollte näher. „Du musst nicht alles auf einmal machen.“
„Alles auf einmal!“, kreischte Sciurus. „Ich darf keine Eichel vergessen! Keine Buchecker! Keine Haselnüsse!“
„Na klar…“, murmelte Robin. „Und warum glaubst du, dass du jede Eichel retten musst? Zib!“
Selbst Herr Fuchs schnaubte. „Junge, du sammelst wie ein Tornado. Schon mal daran gedacht, dass der Winter auch ohne dich kommt?“
Sciurus konnte nicht hören. Sein kleiner Körper war ein Wirbel aus Angst, Pflicht und Adrenalin.
Hans’ Weisheit
Hans, der Igel, seufzte tief. Sein stacheliger Rücken glänzte in der Sonne, während er langsam näher kroch. „Sciurus… hör mir zu. Ich erkläre dir ein paar Dinge, die selbst ich als stacheliger Zeitgenosse nicht vergesse.“
„Erstens: Langsamer ist auch ein Tempo. Du musst nicht alles in einem Atemzug sammeln. Schau dich um. Siehst du die Blätter? Die Sonne? Den Wind? Genieße es.“
„Zweitens: Eine Aufgabe pro Ast. Sammle zuerst, dann vergrabe. Sonst verhedderst du dich in Gedanken und Pfoten.“
„Drittens: Notizen. Kratz ein Zeichen in die Rinde, markiere die Nüsse. Dein Kopf ist kein Vorratsspeicher.“
„Viertens: Bewegung bewusst genießen. Spring nicht nur, um zu rennen. Spiel mit dem Wald, flitze nicht gegen ihn an.“
„Fünftens: Schlaf im Kobel. Ohne Schlaf ist dein Körper wie ein Ast ohne Saft.“
„Sechstens: Früh aufstehen – aber atme zuerst. Ein paar tiefe Atemzüge, ein Schwanzschütteln, ein kleiner Sonnenblick. Dann beginnst du wirklich.“
„Siebtens: Sag auch mal Nein. Du musst nicht jeden Pfad ablaufen, jede Nuss retten.“
„Achtens: Freunde. Vorräte wärmen nur den Bauch. Freunde wärmen das Herz.“
Sciurus blinzelte. Die Worte fühlten sich wie weiches Moos unter den Pfoten an. Zum ersten Mal zögerte er, in die nächste Baumkrone zu rasen.











